64 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Drei Tage waren vergangen. Seit drei Tagen war die Stimmung bei uns eisig. Die Jungs gingen sich gekonnt aus dem Weg und sprachen nur das Nötigste miteinander. Erzählt hatte mir niemand etwas. Nach dem Gespräch war ich in meinem Zimmer verschwunden und sie hatten mich nicht bemerkt. Kurz waren die Tränen eskaliert, doch dann hatte sich in mir etwas verändert. Mein alter Trotz und Selbsterhaltungstrieb, welchen ich unendlich vermisst hatte, waren wieder aufgetaucht. Der panische Engel auf meiner Schulter, der bei jeder Kleinigkeit die Tränendrüse aktiviert hatte, war durch den kleinen durchtriebenen Teufel ersetzt worden. Ich hatte ihn glücklich begrüßt. Die Kälte hatte sich in meinem Körper ausgebreitet und ich hatte sie wie einen alten Freund begrüßt. Und so hatte ich die Tage überstanden. Mein altes nichtssagenden Lächeln war zurückgekehrt, Worte fielen mir leichter und ich verlor nicht mehr so schnell die Fassung. Auch die Schultage hatte ich mit Würde und Haltung überstanden. Zur Überraschung aller hatte ich mich sogar mal gemeldet und was gesagt.
Ein Wunder, der Freak lebt und redet.
Mit Lucas hatte ich geschrieben. Nicht viel, aber wir haben immerhin geschrieben. WhatsApp war zwar schön und gut, aber es ersetzte kein normales Gespräch. Es war viel zu unpersönlich. Genau aus diesem Grund wählte ich nun Lucas Nummer. Innerlich betete ich, dass er abnehmen würde, doch äußerlich zeigte ich keine Regung. Ich hatte mich aus der Wohnung geschlichen und wollte spazieren gehen. Da die Jungs mit ihrem Ego zu tun hatten, hatten sie mich nur am Rande ihres Bewusstseins wahrgenommen. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte aktuell eher dem jeweils anderen. Meine Hände steckten in gefütterten Lederhandschuhen, doch ich fror trotzdem. Die beißende Kälte war einfach extrem.

Lucas nahm nach dem dritten Klingeln ab. „Hast du ein Glück, dass wir gerade Pause haben", erklang seine Stimme amüsiert aus meinem Handy. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich hatte seine Stimme vermisst. „Ob du es glaubst oder nicht: ich besitze so etwas, das nennt sich Uhr", schmunzelte ich. „Sieh an, sieh an, sie redet", rief er erfreut und jubelte so laut, dass ich das Handy von meinem Ohr entfernen musste. „Wie geht's dir Sam", fragte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, mit warmer Stimme. „Ich lebe noch", erwiderte ich etwas verbittet. Bevor er was sagen konnte, ergänzte ich meine Aussage. „Mein Bruder und ich haben eine Art Streit." Ein bisschen stolz war ich ja schon, da ich das Ganze sehr diplomatisch darstellte. Lucas lachte leise auf. „O das kommt mir bekannt vor. Meine Schwester und ich streiten uns auch regelmäßig. Nur so unter uns: kleine Schwestern können echt anstrengend sein." Hätte ich vor ihm gestanden, hätte er vermutlich gezwinkert. „Haha, wie witzig", lachte ich gekünstelt. „Okay, der war mies. Wie geht's dir sonst so?" Na immerhin besaß er so etwas wie Einsicht. Diese Fähigkeit war meinem Bruder ja abhanden gekommen. „Bei mir passiert nichts spannendes. Also, Joa. Mir geht's so wie immer. Auf und ab halt. Und bei dir so?" Gott, ich hasste Fragen. Die Menschen erwarteten dann immer, dass ich antworte und dabei auch nicht lüge. Grausam sowas.

„Das freut mich. Bei mir ist alles gut soweit. Schule schlaucht und ist auch langweilig. Wobei...das mit Grace hast du wahrscheinlich schon gehört, oder? Ich sage dir, dieses Mädchen spinnt. Ansonsten gibts es nicht viel zu erzählen. Elli zickt sich die soziale Hierarchie hoch. Hannah geht ihren Weg und dabei vermeidet sie strickt Leon. Leon würde gerne mit ihr reden und jammert mir jeden Tag die Ohren ab. Ich glaube, es geht ihm ziemlich auf die Nieren, dass Hannah naja vom anderen Ufer ist. Sein Stolz ist nicht mehr so vorhanden." Kurz unterbrach er seinen Vortrag und begann leise mit jemandem zu reden. „Sorry, wenn man vom Teufel spricht." „Welchem Teufel meinst du", lachte ich leise auf. „Grace. Sie ist der einzig wahre Teufel hier. Also nach Elli", feixte er. Aus dem Off ertönte ein lauter Schrei und ein dumpfer Knall war zu hören, dann gab Lucas einen unterdrückten Laut von sich. „Tut mir Leid. Sie ist der wahre Teufel hier. Elli ist harmlos im Vergleich zu dieser Hexe." In zweites Klatschen war zu hören. „Herr Gott nochmal Grace. Behalte deine Griffel bei dir oder schlage Diego. Der soll ja bekanntlich auf harte Aktion stehen", keifte Lucas los, woraufhin ein empörtes Geschnatter zur hören war. Bevor sich Grace in Rage reden konnte, unterbrach er sie: „Fresse jetzt! Du wolltest doch die ganze Zeit, dass ich mit Sam telefonieren. Und jetzt wo ich es mache, behinderst du mich. Entscheide dich langsam mal oder werfe ein paar Pillen ein. Du wirst wieder anstrengend." Diesmal hörte ich Grace Antwort klar und deutlich: „Fick dich, Night." Kurz hörte ich Rascheln, dann seufzte Lucas. „Nochmal sorry. Dieses Mädchen ist dein persönlicher Bodyguard hier bei uns. Ich weiß echt nicht wie sie das macht, aber sie hat einen siebten Sinn was dich angeht. Man muss nur an dich denken und Zack, schon spricht sie einen auf dich an." Er klang etwas genervt.

„Wo waren wir stehen geblieben?" „Was bei dir so geht", half ich ihm auf die Sprünge und ignorierte seine vorherige Aussage. „Aja genau. Ja also das war es eigentlich schon. Naja, Silvester habe icheinMädchenkennengelerntaberhey", ratterte er in einem Atemzug runter. Als wenn ich dieses Genuschel irgendwie verstehen könnte. „Wait what. Ich habe nichts verstanden", stirnrunzelnd blieb ich stehen und schaute kurz auf mein Handy. Was hatte er gesagt?
Er seufzte wieder laut, dann schwieg er kurz. Bevor ich was sagen konnte, redete er dann aber weiter. „Ich habe Silvester ein Mädchen kennengelernt."
Oh.
Meine Gedanken überschlugen sich hektisch. Lucas. Ein Mädchen. Ja moin.
„Sam?" Seine Stimme drang kleinlaut und vorsichtig zu mir rüber. „Ja", krächzte ich. Meine Gedanken wirbelten herum, doch langsam formte sich ein Bild und ich konnte klarer denken. „Okay, du bist noch da", er klang erleichtert. „Kurz hatte ich Angst, dass du aufgelegt haben könntest ." „Was? Nein. Nein. Das würde ich nicht machen", stotterte ich herum. Diese Information überforderte mich etwas. „Seid ihr zusammen?" „Nein, wir hatten Silvester was. Also wir waren betrunken und naja. So ein Neujahrskuss hat schon was und naja. Irgendwie haben wir weiter geschrieben und uns auch ab und an mal getroffen. Was das jetzt ist, weiß ich nicht." Silvester ist jetzt schon zwei Wochen her, aber gut. Immerhin erzählte er es mir überhaupt. „Das klingt doch nicht schlecht", krächzte ich hilflos und zu dumm um irgendwas anderes zu sagen. „Es tut mir Leid", flüsterte er hilflos.
Was genau tat dir Leid?
„Ach Lucas." Meine Gedanken wurden immer klarer. „Es ist doch in Ordnung. Uns trennen tausende von Kilometern. Ich kämpfe mit mir selbst. Wir sehen uns nicht. Du hast viel zu tun. Das mit uns hätte aktuell eh nicht hingehauen...ich meine", kurz musste ich wie eine Irre auflachen. „So wirklich was hatten wir ja dank mir eh nie, von daher. Ich freue mich wirklich wahnsinnig für dich und drücke dir die Daumen."

Ein Teil von mir meinte die Worte ernst. Ein kleiner fieser Dämon in mir würde Lucas aber am liebsten die Pest wünschen. Tapfer schluckte ich den Giftpilz herunter. „Sam. Du...du...du bist unglaublich." „Hä", gab ich wenig intelligent von mir, da ich damit bestimmt nicht gerechnet hatte. „Ich kennen keinen Mensch auf der Welt, der so viel erlebt hat wie du und trotzdem noch so ein herzensguter Mensch ist", seine Stimme klang belegt. Heulte er etwa gleich los? Wenn ja, würde ich todsicher mitweinen müssen. „Du warst meine erste richtige Liebe und glaube mir wenn ich dir sage, dass ein Teil von mir dich immer lieben wird. Und wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja irgendwann unter anderen Bedingungen wieder. Und bis dahin, lass uns bitte weiter Freunde bleiben. Auch wenn ich manchmal nicht der beste Freund war, möchte ich das was wir haben nicht missen müssen." „Ich war auch nicht das Paradebeispiel einer guten Freundin", schniefte ich. Eine Träne verließ mein Auge. Solche sentimentalen Reden waren Balsam für das Herz, aber ich war jedes Mal überfordert mit solchen Situationen. „Aber du bist das Paradebeispiel an Tapferkeit und Durchhaltevermögen", erwiderte er so sanft, dass immer mehr Tränen meine Augen verließen. Verdammt, wo war mein eiskalter Teufel wenn ich ihn brauchte? „Aber manchmal möchte ich nicht mehr durchhalten", gestand ich ganz leise. „Samantha", sagte er mit einer unglaublichen Ruhe und Ernsthaftigkeit. „Denk immer daran: Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende. Du kannst alles schaffen. Das weiß ich!"

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt