33 Kapitel

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Samantha P.o.V.

„Boah, ich hasse Weihnachten", entnervt lehnte Lily sich zurück und drehte sich auf ihrem Bürostuhl im Kreis. Ihre langen Haare flogen umher und bedeckten ihr Gesicht, welches von dunklen Augenringen geziert wurde. „Andauernd heißt es: Lily tu dies, Lily zu das. Einfach zum kotzen ist das! Ich dachte, man soll dieses Fest genießen und nicht in Arbeit ersticken. Da ist mir die Schule um einiges lieber", wetterte sie weiter. Anscheinend war sie es nicht gewohnt mal nicht das Kommando zu haben. Sonst gab sie ja immer den Ton an. Sie schaute mich aus ihren braunen Augen Mitleid erregend an. Zögerlich öffnete ich die Mund, doch sie kam mir wieder zuvor. „Ja, ja ich weiß. Das Schuften hat sich gelohnt. Unser Haus sieht wunderschön aus. Überall hängt Schmuck, alles blinkt und glänzt und, was am Wichtigsten ist, es riecht nach Keksen! Und das obwohl wir nicht mal welche selbst gebacken haben!" Allmählich geriet sie richtig in Rage. Schnaufend sprang sie vom Stuhl auf, warf ihre Haare nach hinten und tigerte im Zimmer auf und ab. Schweigend kuschelte ich mich tiefer in ihre Tagesdecke. Platt wie eine Flunder lag ich auf ihrem Bett und beobachtete sie bei ihrem Tobsuchtsanfall. „Wusstest du, dass es Keksparfüm und Weihnachtsraumdüfte gibt? Ich wusste es bis vor kurzem nicht! Ehrlich, der ganze Weihnachtszauber geht dank meiner Mutter total verloren. Ihr einziges Interesse ist es, gut vor der restlichen Familie dazustehen. Weihnachten ist wie ein verdammtes Statussymbol für sie geworden!"
Du hast immerhin noch eine Mutter.
Ich drehte mich auf den Rücken und schloss die Augen. Ihre Stimme geriet in den Hintergrund. Lärm auszublenden hatte ich bei meinem Vater perfektioniert.

„Naja. Danke dir." Verwirrt drehte ich mich um und sah sie verwirrt aus meinem gesunden Auge an. „Immerhin eine hört mir zu." Eigentlich müsste ich ein schlechtes Gewissen haben, doch das hatte ich nicht.
Ich war eine schlechte Freundin.
„Und, was war bei dir so los? Wie war dein Weihnachten?" Abwartend sah sie mich an. Ätzend erhob ich mich, lehnte mich an die Wand und zuckte mit den Schultern. Das alles zu erzählen war mir eindeutig zu anstrengend.„Also normal? O man, ich beneide dich echt darum. Was würde ich dafür geben, auch endlich mal ein normales Weihnachtsfest zu haben." Sie legte sich ebenfalls aufs Bett und seufzte laut.
Wenn du mein normal kennen würdest, dann würdest du es dir nicht wünschen.
„Aber ein Glück haben wir jetzt erstmal ein Jahr Ruhe vor dieser Scheiße", erleichtert streckte sie ihre Arme aus und lächelte. „Silvester gebe ich übrigens mit den Jungs eine Party. Wir feiern wie immer bei Jo. Also wenn du kommen willst, bist du hiermit herzlich eingeladen."
Fast schon automatisch zuckte ich erneut mit den Schultern, was sie zum Lächeln animierte. „Weißt du was Sam? Du bist super. Du hörst einem zu und bist dabei auch noch so mega gesprächig." Gequält lächelte ich sie an, was sie dazu animierte, mich fest in den Arm zunehmen. Steif ließ ich es über mich ergehen. Eine Flucht war sinnlos. Leider.

„Na dann, komm gut nach Hause." Zitternd umarmte sie mich nochmal und schloss dann hinter meinem Rücken die geschmückte Haustür. Tief in meinen Mantel gekuschelt schritt ich durch den Matschschnee. Obwohl es der 28. Dezember war, waren in der Straße alle Häuser noch festlich geschmückt. Überall blinkten Schlitten mit Rentieren und Weihnachtsmännern auf. Lichterketten zierten die Häuser und Zäune und tauchten die Straße in ein fast schon magisches Licht. Nasse Schneeflocken fielen vom Himmel und wurden auf meinem Mantel zu Wassertropfen. Obwohl es Ende Dezember war, blieb der Schnee nur teilweise liegen. Hauptsächlich Regen kam vom Himmel runter. Ab und an fror es in den Nächten und man konnte am nächsten Morgen auf der Straße Schlittschuhlaufen und sich alle Knochen brechen. Jetzt, am späten Nachmittag, war alles matschig und ungemütlich. Die wenigen gefrorenen Pfützen brachten mich zum schlittern und mehr als einmal, wäre ich beinahe hingeflogen. Ich hasste den Winter. Die ganze Kälte drang mir zu tief in die Knochen und ich hörte eigentlich nie auf zu zittern. Ich war eine Frostbäule wie sie im Buche stand. Vielleicht lag es auch daran, dass ich nicht einen Gramm Fett am Körper hatte. Der Winterspeck war mir bislang noch nie gegönnt gewesen.
Mit klappernden Zähnen zog ich mir die schwarze Mütze noch tiefer ins Gesicht und über die kalten Ohren. Meine ehemals warmen Stiefel waren durch den Matsch kalt und nass. Die fünfzehn Minuten Fußmarsch, die ich heute gütiger Weise alleine tätigen surfte, erschienen mir endlos. Die tauben Finger steckte ich in die Manteltaschen. Irgendwo in der Ferne läutete eine Kirchenglocke, ansonsten war es, bis auf meine eigenen Geräusche, totenstill.
Fast wäre ich an unserem Gebäude vorbeigelaufen, so sehr hing ich meinen eigenen Gedanken nach. Im letzten Moment erkannte ich Bastis nasses Auto und blieb stehen. Ein Zuhause war dort, wo man gerne hinkam.
Ein Zuhause war dort, wo man sich sicher und geborgen fühlte.
Ein Zuhause war etwas, was ich seit Jahren nicht gehabt hatte.
Ein Zuhause fehlte mir nach wie vor.

Steif vor Kälte erklomm ich die Stufen im kalten Treppenhaus. Viel zu schnell erreichte ich unsere Wohnungstür. Gelächter und laute Stimmen drängen mir entgegen. Anscheinend hatte mein Bruder Besuch. Wie so oft, hatte er mich nicht in seine Pläne eingeweiht. Mechanisch öffnete und schloss ich die Tür, schlüpfte aus den Stiefel und dem Mantel und ging auf leisen Sohlen den Flur entlang. Mehrere Stimmen drangen mir entgegen. Vor Kälte zitternd strich ich meine Haare zurück. Meine Gedanken überschlugen sich beinahe. Entweder reinschauen oder weggehen. Alles an mir schrie mich an wegzugehen. Doch ich nahm meinen Mut zusammen und drückte die Türklinke herunter. Augenblicklich wurde es still und mir war, als würden alle die Tür anschauen. Tapfer biss ich die Zähne zusammen und betrat den überfüllten und viel zu stickigen Raum. Abrupt blieb ich stehen und am liebsten wäre ich schreiend zurück gerannt. „Hey Sam. Ich dachte, du würdest erst später wieder kommen." Peinlich berührt kratzte mein Bruder sich am Kinn und wich meinem Blick aus.
Als ob das etwas geändert hätte!

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt