45 Kapitel

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Samantha P.oV.

Silvester verging schneller als gedacht. Das lag allerdings auch daran, dass ich ab dem 30. Dezember krank im Bett lag. Mein Magen hatte beschlossen zu streiken. Dementsprechend behielt ich nichts mehr bei mir, lag nur noch im Bett und hatte die Schmerzen meines Lebens. Da ich eh schon wenig aß, reduzierte sich das Minimum nun auf null, denn ich verweigerte die Nahrungsaufnahme komplett. Sobald ich was zu mir nahm, verließ es mich Sekunden später wieder. Am Silvesterabend gesellte sich auch noch Fieber hinzu, wodurch ich mich komplett ausgeknockt fühlte. Ein großer Vorteil war, dass ich endlich Zugang zu Medikamenten hatte.
Vomex half hervorragend gegen die Übelkeit, hatte aber als Nebenwirkung Müdigkeit. So kam es, dass ich nachdem ich mein Frühstück ausgekotzt hatte, Vomex und Buscopan schluckte, ins Bett fiel und den Tag verschlief. Ich schlief tief und fest, was für mich an ein Wunder grenzte. Meine Träume blieben fort und ich bekam glatt mal etwas Schlaf ab, was für mich wie Erholung war. Es war herrlich. Am Silvesterabend war ich kurz wach, nickte meinem Bruder zu, beruhigte sein Gewissen und somit war ich ihn los. Er verschwand zu irgendeiner Party. Er hatte sich die Tage so gut es ging um mich gekümmert. Dies hatte mehr schlecht als recht geklappt, da ich jedes Mal in Panik verfiel, wenn er mir nur die Haare aus dem Gesicht halten wollte, damit ich kotzen konnte. Wir distanzierten uns immer mehr voneinander. Sobald wir mal Zeit miteinander verbrachten, brauchten wir danach erstmal Ruhe. Er hatte sich am 30. Dezember um mich gekümmert. Das reichte für die nächsten Wochen. Er ertrug meine Nähe nicht und ich seine noch weniger. Die Distanz zwischen uns war so groß, dass man sie nicht einmal mehr mit einem Flugzeug hätte überwinden können.
Ich nahm ihm sein Verhalten nicht übel. Ehrlich gesagt konnte ich ihn komplett verstehen. Ich ertrug mich selbst nicht einmal mehr.

So kam es, dass ich irgendwann um drei Uhr nachts aufstand. Silvester war vorüber und trotzdem feierten die Menschen draußen. ich hörte sie jubeln, böllern und schreien. Es war eine trockene und kühle Nacht.
Perfekt zum feiern.
Raketen flogen vereinzelt in die Luft und tauchten die dunkle Nacht in buntes Licht. An sich ein schöner Anblick, doch mich ließ es kalt. Tapsig lief ich in die Küche. Der Durst trieb mich dazu. Seit Tagen hatte ich diesen Raum nicht mehr betreten. Essen konnte ich eh nichts, also was sollte ich dann hier?
Nun war meine Wasserflasche leer und ich brauchte Nachschub. Müde und verschlafen nahm ich mir eine Sprudelflasche aus der Kiste, als sich eine Hand auf meine Schulter legte.
Eine raue Männerhand legte sich auf meine Schulter.
Die Wasserflasche fiel zu Boden und zerbrach in tausend Scherben.
Die Tasche entglitt meinen Händen und fiel zu Boden.
Das Wasser ergoss sich über den Boden und durchnässte meine Socken.
Die Hände packten mich fester.
Ich spürte einzelne Scherben unter meinen Füßen, als ich einen kleinen Schritt zur Seite trat.
„Samantha. Dreh dich um. Jetzt sei nicht so widerspenstig", flüsterte die Stimme in mein linkes Ohr. Barthaare kitzelten mich am Ohr. Sein Atem stank noch Alkohol.
„Sam. Alles ok?" Eine Stimme drang von weit weg zu mir rüber.
„Na komm schon. Was habe ich dir immer gesagt?" Die Stimme wurde zorniger. „Du sollst das tun, was ich verlange!"
Die Hand auf meiner Schulter übte mehr Druck aus. Wie erstarrt stand ich da. Einzelne Tränen verließen mein Augenlid.
Er war hier!
Er hatte mich gefunden!
Er war nie gestorben!
„Komm schon kleine Sam", lockte er mich, doch ich rührte mich nicht. Er wartete noch zwei Sekunden ab, dann verstärkte er seinen Griff und drehte mich um. Andächtig glitt sein vernebelter Blick über meine leicht geöffneten Lippen. Wie in Zeitlupe fuhr er mit seinen schmierigen Finger meine Lippen nach. „So wunderschön", hauchte er, als er eine Haarsträhne aus meinem Gesicht entfernte.
Mein Blick war starr geradeaus gerichtet. Die Wand, welche in der Dunkelheit schwarz statt weiß war, war mir ein willkommener Anblick. Ich wollte mich nicht wieder umdrehen. Ich kannte die Folgen, die Geschehnisse, die Resultate. Ich wollte einfach nicht mehr.

„Hey Sam? Ist alles in Ordnung", wiederholte der Mann hinter mir seine Frage. Keine Reaktion. Ich war wie erstarrt. Mein Körper war urplötzlich zu Eis gefroren und weigerte sich zu reagieren. Die Übelkeit kehrte zurück. Mein Magen rumorte und wirbelte umher, als vor meinen Augen sich die vergangenen Geschehnisse wiederholten.
„Hattest du einen schönen Tag?" „Wo ist Basti", fragte ich leise, den Blick starr zu Boden gerichtet. Ich hoffte so, dass er bald zurückkommen würde. Wenn er hier wäre, würde mein Vater nichts machen. Er würde mich in Ruhe lassen! „Dein Bruder ist bei seinen Freunden. Sie lernen für die Prüfungen", murmelte mein Vater leise vor sich hin. Seine gierigen Augen wanderten über meinen Körper. Die unruhigen Finger zupften an meinem Pullover, doch noch hielt ich dagegen. „Wann kommt er wieder?" Innerlich flehte ich Basti an, sofort um die Ecke zukommen. Vielleicht gab es ja eine telepathische Geschwisterverbindung zwischen uns beiden, doch mein Vater machte diesen Gedanken bald zunichte. „Heute nicht mehr. Das heißt, wir haben das ganze Haus für uns alleine", hauchte er in mein Ohr. Seine Finger wanderten unter meinen Pullover, zerrten diesen über meinen Kopf und gingen auf Wanderschaft. Fast schon sanft berührte er mich, als wäre ich eine Kostbarkeit die es zu bewahren galt.
Die Übelkeit überrannte mich. Meine Starre löste sich auf und ich brach in mich zusammen. Zitternd erbrach ich mich auf den durchnässten Küchenboden. Galle stieg in mir hoch und ich konnte mich einfach nicht mehr beherrschen. Tränen liefen über meine Wangen, als ich mich in den Scherben und dem Dreck zusammen kauerte.

Wie ein Baby rollte ich mich zusammen und schluchzte leise in meine Knie, so fest hielt ich sie umschlungen. Die Scherben bohrten sich in meine Kleidung und in die nackte Haut meines Armes, doch ich spürte den Schmerz nicht. Kräftige Arme packten mich, zerrten mich hoch und trugen mich fort.
Die Erinnerungen überrollten mich, ließen mich immer wieder leiden.
Ich spürte die Schmerzen von damals, seine intimen Berührungen.
Ich hörte die Stimme, seine leisen Liebkosungen.
Ich erinnerte mich an seine Hände, wie er mich sanft streichelte.
Ich dachte an seine Wutanfälle, wie er mich schlug, trat oder schubste.
Ich fühlte die Prellungen, die Verletzungen.
Und trotz der Schmerzen, schrie ich nicht. Leise rollten die Tränen über mein zerfurchtes Gesicht. Ich lag in den Armen von jemanden und konnte nicht weg. Nicht weil er mich gewaltsam festhielt, nein. Mir fehlte die Kraft.

Broken InsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt