Der Kuss

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Wie versprochen, sprach Mr Whiteshaw am darauffolgenden Tag in Ferywood Manor vor. Er kam auch an jedem der darauffolgenden Tage. Auch Mr. Redgrave kam mit Lydia und ebenso andere Nachbarn, die dem neuen Lord Velton ihre Aufwartung machen wollten. Richard ließ die Höflichkeitsbesuche mit stoischer Miene über sich ergehen, ließ sich seiner Schwester gegenüber jedoch zu der leicht zynischen Äußerung hinreißen, die Grafschaft müsse geradezu entvölkert sein, weil alle nach Ferywood pilgerten, um ihre Neugierde zu befriedigen. 

Lediglich der Besuch der Redgraves schien so etwas wie Interesse bei ihm zu wecken. Sir Marcus Redgrave, ein imposanter Herr, ungefähr so groß wie Richard, aber doppelt im Umfang, kam mit seiner hübschen Tochter Lydia zu Besuch. Der Herr, der es im Handel zu Wohlstand gebracht hatte, hatte eine laute, donnernde Stimme, war in seinen Äußerungen direkt, in seinem Verhalten herzlich und großzügig. Miss Redgrave zeigte sich dagegen in ihrer vollen Pracht feinster Kleider und zurückhaltender Wohlerzogenheit, als wolle sie die Überschwänglichkeit ihres Vaters damit dämpfen. Sie war so liebreizend und gab in einem Fort höfliche Floskeln von sich, dass Hetta Samantha gegenüber später bemerkte, dass sie fürchte, Miss Redgrave verfüge zwar über alle Anmut dieser Welt, aber über mäßigen Geist und noch weniger eigene Meinung. Sie fügte hinzu, dass ihr Bruder Charles nie viel Sinn für kluge Frauen gehabt hatte und es daher nicht verwunderlich war, dass er sie hatte heiraten wollen. Erstaunlich fand Hetta allerdings, dass ihr Bruder Richard offensichtlich Gefallen an Miss Redgrave gefunden hatte. Als sie zum Morgenbesuch gekommen war, hatte er sich von seiner höflichsten Seite gezeigt und ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt. Gleich am darauffolgenden Tag hatte er den Besuch erwidert und war nach Oakfield, dem Anwesen der Redgraves, geritten, ohne sein übliches Murren, dass Morgenbesuche Zeitverschwendung wären und er Wichtigeres zu tun hatte. An den darauffolgenden Tagen waren weitere Besuche zwischen Ferywood Manor und Oakfield gemacht und erwidert worden. 

Die häufigen Besuche entging weder Hetta, die sich wunderte, noch ihrer Mutter, Lady Velton, die sich darüber freute. 

"Er sollte sie heiraten", sagte Ihre Ladyschaft, als sie eines Vormittags nach Ferywood Manor gekommen war, zu ihrer Tochter. Sie saßen bei Tee und Gebäck im kleinen Salon, während sich die Kinder auf dem Teppich mit einem Puzzle beschäftigten. Samantha saß nahe beim offenen Fenster, durch das die Frühlingssonne hereinschien, und säumte ein Taschentuch. 

Samantha war bereits seit mehreren Wochen im Jahr 1813 und bisher mit ihren Bemühungen, in die Zukunft zurückzukehren, kein Stück weitergekommen. Sie hatte weder die verschollenen Unterlagen in der Bibliothek noch die Kette mit dem Amulett gefunden. Leider hatte sie aber auch wenig Gelegenheit danach zu suchen. Sobald sie sich in der Bibliothek allein wähnte, fand der Butler, oder ein Dienstmädchen mit Staubwedel, einen Grund, hereinzukommen. In den Wald konnte sie auch nicht so einfach gehen, weil ihr die Mädchen auf Schritt und Tritt folgten und die Kinder zu jung waren, um ein Geheimnis für sich zu behalten.

Lord Velton hätte ihr möglicherweise helfen können, aber er war zu sehr damit beschäftigt, sein Anwesen auf Vordermann zu bringen und Miss Redgrave in Oakfield zu besuchen.

Allerdings hatte sie es, wenn sie ehrlich zu sich war, im Moment gar nicht mehr so eilig in ihre Zeit zurückzukehren. Schließlich hatte sie sich schon immer für diese Epoche interessiert, die Romane Jane Austens verschlungen, in der historischen Tanzgruppe mitgemacht und dafür ihre eigenen Kostüme genäht, einige Semester Kunstgeschichte studiert und in einem Museum gearbeitet. Es war ein Abenteuer, hier zu sein. Dabei fühlte sich das Leben fast wie Urlaub an. Sie hatte wenig mehr zu tun, als sich um die Kinder zu kümmern und ein bisschen Handarbeiten zu machen, zu lesen, oder Spazierengehen. An die Anwesenheit der Dienstboten hatte sie sich schnell gewöhnt und, auch wenn ihr modernes Ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen dabei hatte, genoss sie es, bedient zu werden. Nicht einmal um ihr widerspenstiges Haar musste sie sich kümmern, weil das Hausmädchen Becky sie frisierte und ihr mit den prachtvollen Gewändern aus Musselin, Netz und Seide half, die Hetta ihr geschenkt hatte. Sie vermisste kaum etwas aus ihrem alten Leben und mochte die ruhige Gemächlichkeit, die das Leben ohne Autos, Strom und Internet ausmachte. Außerdem hatte sie sich mit Hetta angefreundet und verstand sich gut mit Captain Helwick, der ihr die Finessen des Kartenspiels beibrachte, oder mit ihr und Hetta Ausritte machte. Gelegentlich schloss sich ihnen Lord Velton an. 

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt