Leben und Tod

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"Das klingt schon wieder so geheimnisvoll", murmelte Samantha.

Lord Velton seufzte und warf ihr einen langen Blick zu. "Es ist aber genauso gewesen."

"Und jetzt hängen Sie hier fest", stellte sie fest.

"Jedoch mit äußerst angenehmer Gesellschaft."

Samantha sah auf und bemerkte, dass er lächelte. Sie war fasziniert, wie sich sein ganzer Ausdruck beim Lächeln veränderte. Seine Gesichtszüge wurden weicher, seine braunen Augen bekamen einen warmen Glanz und in den Augenwinkeln zeichneten sich feine Lachfältchen ab, die bewiesen, dass er einst viel gelacht hatte. Er war kein gutaussehender Mann im klassischen Sinne, aber er wirkte auf eine männliche Art anziehend, strahlte Stärke und Entschlossenheit aus, aber gleichzeitig umgab ihn eine melancholische Aura, was in Anbetracht der Tatsache, dass er tot war, jedoch sicher nicht weiter verwunderlich war. Samantha ertappte sich dabei, wie sie ihn anstarrte und als sie bemerkte, dass er sich ihres Blickes bewusst war und mit einem seltsam wissenden Lächeln erwiderte, wurde sie rot. Er las in ihrem Gesicht wie in einem offenen Buch, obwohl sie selbst gerade nicht hätte benennen können, was in ihr vor ging. Sie verlor sich einfach in diesen tiefgründigen braunen Augen und die Sekunden verstrichen.

Himmel, was machte sie hier eigentlich? Er war seit zweihundert Jahren tot! Samantha riss ihren Blick von ihm los, sah entschlossen weg und stand hastig auf. Dann machte sie ein paar Schritte in Richtung der Klippen, um mehr Abstand zwischen sie zu bringen. Er schien ihre Verwirrung bemerkt zu haben und folgte ihr diesmal nicht.

Der Wind war so schnell abgeflaut, wie er vorhin aufgefrischt war, und die Wolken waren weitergezogen. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, zog gierig die salzige, kühle Luft ein. Ein paar Augenblicke stand sie nur so da, bis sie glaubte, ihre Sinne wieder beieinander zu haben. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah sich um. Er stand noch immer bei den Felsen, wo sie vorhin vor dem Wind Schutz gesucht hatten, und sah mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte, zu ihr hinüber. Dann setzte er sich in Bewegung, ließ sie nicht aus den Augen. Er schritt so entschlossen aus, dass sie fast vor ihm zurückgewichen wäre, aber nur fast. Stattdessen stand sie wie angewurzelt da, fast erwartungsvoll, nur einem Meter vom Abgrund entfernt. Im Rücken das Rauschen des Meeres, das Kreischen der Vögel, die in den Felsen nisteten. Er war fast bei ihr.

Dann verlor sie die Kontrolle. Der altbekannte Schwindel erfasste sie, wie am Vorabend, und sie taumelte. Bei dem Versuch, sich wieder zu fangen stolperte sie rückwärts in Richtung des Abgrunds. Das Meer rauschte jetzt unnatürlich laut in ihren Ohren. Sie verlor die Orientierung und wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Das tiefe Blau des Meeres vermischte sich mit dem helleren Blau des Himmels. Sie fand keinen Halt. Da war nichts als gähnende blaue Leere und die Tiefe. Die Klippen waren hoch, die Felsen schroff und das Meer rau. Sie wusste, dass sie fallen würde. Tief, endgültig. Sie schloss die Augen, um zu sterben.

Im nächsten Augenblick riss sie irgendetwas von dem Abgrund zurück und ihr wich alle Luft aus den Lungen, so heftig wurde sie herumgerissen. Sie musste einen Augenblick lang das Bewusstsein verloren haben, aber nicht lange. Das nächste, was sie spürte, war das Kitzeln kurzer, struppiger Grashalme unter ihrer Wange. Sie blinzelte, noch immer war ihr schwindelig und sie wunderte sich, warum sie nicht gestürzt war, zwischen den Felsen in Stücke gerissen oder im eiskalten Meer ertrunken. Oder war sie gestürzt und längst tot?

Mit fahrigen Bewegungen rappelte sie sich hoch, vom Schwindel noch immer benommen. Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis sie ihren Blick so weit fokussiert hatte, dass sie die Umgebung richtig wahrnehmen konnte. Sie saß in sicherer Entfernung vom Abgrund. Die Sonne schien noch immer warm auf sie hinab, als wäre nichts geschehen. Lord Velton kniete neben ihr im Gras.

"Bin ich tot?", fragte sie benommen.

"Bei Gott, nein", sagte er. Die tiefe Stimme klang rau, fast verärgert. "Ich sagte doch, Sie sollten nicht zu nah an den Rand gehen."

"Mir wurde schwindlig. Ich dachte, ich würde fallen. Wie -?" Sie sah ihn fragend an. Ihr war eingefallen, wie er bei ihrer ersten Begegnung versucht hatte, sie zu berühren, aber seine Hand geradewegs durch ihre hindurch gegangen war. Dennoch musste er es gewesen sein, der sie vor dem Sturz bewahrt und vom Abgrund zurückgerissen hatte. Sonst war niemand hier.

"Ich weiß es nicht." Beim letzten Wort brach seine Stimme und er gab einen bewegten Seufzer von sich, der Samantha direkt ins Herz traf. Dann streckte er einen Arm nach ihr aus, packte sie fast unsanft um die Schultern, zog sie an seine Brust und hielt sie fest, als hätte er irgendein Recht dazu, als wäre er überhaupt aus Fleisch und Blut, aber sie ließ ihn gewähren, zu durcheinander, um klar denken zu können. Samantha spürte den rauen Wollstoff der Uniform und die silbernen Knöpfe unter ihrer Wange. Es war unmöglich und doch war es so. Sie sollte tot sein, aber sie war es nicht.

"Danke", flüsterte sie gegen seine Brust. Er antwortete nicht, aber sie spürte, wie sich sein Griff noch verstärkte. 

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt