Ferywood 1813
Richard Latimer wachte im Morgengrauen nach einer kurzen und unruhigen Nacht auf. Er hatte schlecht geträumt. Wieder einmal hatte er das engelsgleiche und zugleich hasserfüllte Gesicht des französischen Trommlerjungen im Traum vor sich gesehen und das „Vive l'Empereur!" gehört, das er in dem Moment trotzig ausgestoßen hatte, in dem sie ihn erschossen hatten. Keinem war es leichtgefallen, den Knaben hinzurichten, denn selbst der hartgesottenste Soldat bekam Skrupel, wenn es um ein Kind ging. Sie waren seinem Befehl jedoch gefolgt, weil viele ihrer Kameraden an jenem harten Tag dem Feuer oder dem Feind zum Opfer gefallen waren und der Junge mit einer Kaltblütigkeit agiert und ohne jede Reue gewesen war, was selbst die härtesten Männer entsetzt hatte. Es war, als wäre der kaltblütige Mord an ihrem Offizier der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Im Kampf zu sterben war eine Sache, hinterrücks ermordet zu werden eine andere. In solchen Momenten begannen die Soldaten die Dinge zu hinterfragen. Das war gefährlich für die Moral und den Kampfgeist. Die Männer hatten Rache gewollt und Richard hatte sie ihnen gegeben, indem er den Trommlerjungen töten ließ. Er hatte getan, was getan werden musste. Dennoch wurde er den Anblick des sterbenden Jungen nicht los. Er verfolgte ihn seither in seinen Träumen. Immer wieder durchlebte er den Moment, als die Schüsse auf seinen Feuerbefehl hin krachten und der Junge mit dem patriotischen Ruf auf den Lippen starb. Er sah auch die geheimnisvolle Frau mit dem kastanienbraunen langen Haar und den smaragdgrünen Augen, die ihm auf wundersame Weise geholfen hatte der Flammenhölle zu entrinnen, in seinen Träumen. Er träumte fast ebenso oft von ihr wie von dem Jungen und langsam wusste er nicht mehr, welche Träume schlimmer waren, denn auch wenn sie ihm geholfen hatte, so waren die beiden Ereignisse jenes Tages vor zwei Jahren doch so eng miteinander verknüpft, dass sie sich in seinen Träumen manchmal vermischten. Er hatte sie damals im Feuer nur kurz gesehen, aber ihre Gesichtszüge hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt und ihre grünen Augen mit ihrem geheimnisvollen Glanz würde er nicht vergessen. Auch in dieser Nacht war sie im Traum da gewesen. Sie hatte mit missbilligendem Blick dagestanden und zugesehen, wie er den Feuerbefehl gegeben hatte, als wäre sie sein Gewissen. Vielleicht war sie das auch, zumindest in seinen Träumen. Er hatte die junge Frau seit dem Feuer außerhalb seiner wirren Träume nie mehr gesehen und hatte nie eine Antwort auf die Frage erhalten, wer oder was sie war. Manchmal hatte er geglaubt, sie in den tanzenden Schatten eines Lagerfeuers, hinter einer im Wind flatternden Zeltwand oder gar im Pulverdampf eines Schlachtfelds zu erblicken, aber es war stets Einbildung gewesen. Hirngespinste seines ruhelosen Geistes, der zu viel gesehen und getan hatte, um Frieden zu finden.
Sein Zuhause, Ferywood Manor, war ihm fremd. Und doch war er jetzt hier. Es war zu still, das Bett zu weich, das Zimmer zu geräumig und in Spanien war es wärmer gewesen. Richard war die umtriebige Geschäftigkeit eines Feldlagers oder einer quirligen Garnisonsstadt mit engen Quartieren und harten Feldbetten gewöhnt. Die Ruhe und der Friede in Ferywood empfand er fast als beunruhigend, obwohl es sein Elternhaus war und jetzt ihm gehörte. An Weiterschlafen war nicht mehr zu denken, obwohl der Tag kaum angebrochen war und sich das erste Tageslicht erst zaghaft hinter den Bäumen des alten Waldes zeigte. Er stand auf und zog sich an. Aus alter Gewohnheit und weil die neuen Anzüge noch nicht vom Schneider geliefert worden waren, schlüpfte er in den alten abgetragenen Uniformrock, dessen scharlachrote Farbe seit Langem verblichen war. Er war 13 Jahre lang Offizier gewesen, und die Uniform war in der Zeit wie eine zweite Haut für ihn geworden. Es war seltsam, dass er sie nun für immer ablegen sollte. Eher hatte er damit gerechnet in ebendieser Uniform auf irgendeinem Schlachtfeld für König und Vaterland im Kampf zu sterben, als nach Hause zurückzukehren und ein ruhiges Leben als Gentleman zu führen. Allein die Vorstellung wäre vor einem Jahr noch undenkbar für ihn gewesen, aber das Schicksal hatte andere Pläne für ihn gehabt. Vor elf Monaten war sein Vater den Folgen eines Schlaganfalls erlegen und sein älterer Bruder Charles hatte den Titel Lord Velton und das Anwesen geerbt. Richard hatte durch einen förmlichen Brief seines Onkels, Sir Henry Latimer, davon erfahren. Seine Mutter oder sein älterer Bruder Charles hatten es nicht für nötig gehalten, ihn zu verständigen und er wunderte sich nicht weiter darüber. Seine Familie hatte ebenso wenig Sehnsucht nach ihm wie er nach ihnen verspürt. Nur wenige Monate nach dem Tod des Vaters hatte es Charles jedoch fertiggebracht, sich bei einem Reitunfall das Genick zu brechen und Onkel Henry hatte sich erneut genötigt gefühlt, seinem Neffen zu schreiben. Diesmal mit der dringenden Aufforderung, den Dienst umgehend zu quittieren und heimzukommen, um sein Erbe als Lord Velton anzutreten. Sir Henry hatte mehrere solcher Briefe in immer dringlicherem Ton geschrieben, aber Richard hatte sich viel Zeit mit der Heimkehr gelassen, obwohl es eigentlich nicht seine Art war, einer Pflicht aus dem Weg zu gehen, aber es war ihm schwergefallen, sein altes, gewohntes Leben, sein Regiment, seine Kammeraden im Stich zu lassen, denn die Franzosen waren noch lange nicht aus Spanien vertrieben und der Krieg noch lange nicht vorbei. Er hätte es für seine Pflicht gehalten, eine Ehrensache, weiterzukämpfen, ob er nun durch den Leichtsinn seines älteren Bruders Lord Velton geworden war oder nicht, wenn nicht eine andere Pflicht für ihn noch schwerer gewogen hätte. Diese Pflicht hatte ihm vor zwei Jahren Thomas Shepherd auferlegt, als er Richard vor seinem Tod das Versprechen abgenommen hatte, sich um seine Frau Hetta, die Richards Schwester war, und deren beiden Töchter zu kümmern. Thomas hatte nie Vermögen besessen und er hatte keine Familie, die Hetta nach dessen Tod hätte unterstützen können, so dass Richard seither für ihren Lebensunterhalt aufgekommen war. Von ihrem Vater war keine Unterstützung gekommen, obwohl Richard ihm geschrieben hatte, dass seine Tochter Witwe und mittellos war, aber Vater hatte Hetta nie verziehen, dass Sie damals im Jahr 1807 mit Thomas Shepherd nach Schottland durchgebrannt war, um gegen den Willen ihrer Eltern zu heiraten, und Richard, dass er den beiden bei der Flucht geholfen hatte. Kein Wort der Anteilnahme oder der Versöhnung war je über die Lippen ihres Vaters gekommen. Also hatte Richard die ganze Verantwortung auf sich genommen und hatte Hetta und die Mädchen von seinem Sold ernährt, was nicht immer einfach gewesen war und mit Verzicht und Einschränkungen auf allen Seiten einher gegangen war. Als Lord Velton würde er ihnen ein geregeltes, standesgemäßes Leben in Ferywood bieten können und diese Aussicht war es gewesen, die ihn veranlasst hatte, den Dienst zu quittieren, wie es sein Onkel verlangte. Er hatte seiner Schwester aufgetragen zu packen und ihren Hausstand in Lissabon aufzulösen und mit ihm zu kommen. Hetta war eine Frau, die die Dinge nahm wie sie kamen, aber sie war ihm nur widerwillig gefolgt.
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In Love and War - Geheimnis um Ferywood
FantasíaGeister, geheimnisvolle Mächte, eine alte Sage und das Schicksal... Samanthas Leben ist beschaulich und ihre Arbeit im Museum gefällt ihr. Doch dann verirrt sie sich im Wald von Ferywood und findet sich plötzlich im Jahr 1813 wieder. Dort trifft si...