Der Falter und das Licht

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Samantha hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie hatte sich für ihr Leben hier im Neunzehnten Jahrhundert entschieden, für Ihre Familie und Ihre Vergangenheit. Sie hatte den Vollmond unbeachtet vorbeigehen lassen und auf das Wiedersehen mit Ihrer Mutter und ihrem Bruder gewartet. Heute war sie ihnen nach so langer Zeit begegnet. Sie hätte überglücklich sein müssen, aber sie hatte Angst. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau. Würde sie mit ihnen leben können? Würde sie die Erwartungen ihrer Familie erfüllen können? Die Jahre, die sie in der Zukunft verbracht hatte, hatten sie geprägt. Sie hatte sich zu einer anderen Frau entwickelt, als sie es geworden wäre, wenn sie hier aufgewachsen wäre. Würde sie ihnen irgendwann sagen können, wo sie all die Jahre gewesen ist? 

Am Nachmittag hatte sie lange allein mit ihrer Mutter zusammengesessen. Eine Zeitlang hatte ihnen auch Edward Gesellschaft geleistet. Sie hatten sich unterhalten, einander neu kennen gelernt. Ihre Mutter hatte Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt und es hatte sie einander nähergebracht, als Samantha sich ebenfalls erinnerte. Sogar ihr Bruder, der so skeptisch war, war etwas aufgetaut. Die lange Zeit der Trennung schnitten sie bei ihren Gesprächen nicht an. Ihre Mutter, weil es zu schmerzhaft für sie war und Samantha, weil sie nicht lügen wollte. Sie wusste, dass sie irgendwann darüber reden würden, aber nicht jetzt.

Mrs Hedgeworth hatte Samantha von dem Leben in London erzählt und begann Pläne zu schmieden. Sie überlegte, welche Sehenswürdigkeiten sie Samantha zeigen wollte, welche Schneiderin sie aufsuchen würden, welche Freunde und Verwandte sie kennen lernen musste und welches Theaterstück sie nicht verpassen durfte. Samantha spürte, dass ihre Mutter ebenso nervös war, wie sie selbst und offenbar das Bedürfnis hatte, die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Samantha stimmte allem zu, was ihre Mutter vorschlug. Denn auch sie wollte so vieles nachholen. In London zu leben erschien ihr verlockend. Das Leben in der Stadt würde sie von allem anderen ablenken. Sie würde neu anfangen.

Nach dem Dinner hätte Samantha eigentlich todmüde ins Bett fallen müssen, aber sie fühlte sich überhaupt nicht müde, obwohl der Tag emotional so anstrengend gewesen war. Als sich alle auf ihre Zimmer zurückzogen, ging sie auf die Terrasse um zur Ruhe zu kommen und frische Luft zu schnappen.

Es war eine laue Sommernacht. Im Park zirpten die Grillen und am wolkenlosen, sternenklaren Himmel stand der abnehmende Mond und spendete schwaches Licht. Im Salon hatte Samantha einen Kerzenständer stehen lassen und das Kerzenlicht schien gedämpft durch die Scheiben der großen Glastür nach draußen. Ein Nachtfalter klatschte bei dem Versuch zum Licht zu fliegen gegen die Scheibe und fiel taumelnd zu Boden. Samantha lehnte sich mit einem Seufzer gegen die kühle Hauswand und atmete die nach frisch geschnittenem Gras duftende Luft ein.

Als sich unerwartet die Terrassentür öffnete und die Kerzen im Salon durch den leichten Lufthauch zu flackern begannen fuhr sie herum.

„Wir hatten wohl denselben Gedanken", stellte Richard fest, als er sie im Halbdunkel bemerkte. Er zögerte an der Schwelle, den Türgriff noch in der Hand. „Möchtest du allein sein?"

Samantha schüttelte den Kopf, dann fiel ihr auf, dass er ihr Kopfschütteln vermutlich im Halbdunkel gar nicht gesehen hatte. „Nein, bleib ruhig. Ich habe nur – etwas frische Luft gebraucht."

„Es war ein anstrengender Tag für dich", stellte er fest. „Deine Mutter ist sehr froh, dich wieder zu haben und Edward auch, wenn er es auch nicht so zeigen kann. Er ist ein sehr ernsthafter junger Mann mit den besten Absichten und großem Verantwortungsgefühl."

Samantha warf ihm einen Blick zu. Offenbar hatte Richard ihrem Bruder auf den Zahn gefühlt und sie fragte sich, was wäre, wenn sich Edward als verantwortungslos herausgestellt hätte.

„Vermutlich kann er sich kaum an mich erinnern. Wir waren beide noch so klein."

„Es braucht Zeit. Edward wird sich gut um dich kümmern."

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt