Die Bibliothek wirkte leer und verlassen. Die Abwesenheit Lord Veltons war spürbar. Der samtgrüne Sessel, in dem er gerne saß, war verwaist. Aus dem Arbeitszimmer drang seit Tagen kein Laut, weil er nicht da war und demnach auch keine Pächter und Nachbarn mit ihren Anliegen zu ihm kamen. Sogar das Licht, das durch die hohen Fenster fiel, wirkte irgendwie trostlos, denn der Himmel war grau und wolkenverhangen. Lord Velton war jetzt seit knapp zwei Wochen in London und hatte seither nichts von sich hören lassen. Hetta war der Meinung, dass er gut und gerne noch ein oder zwei Wochen fortbleiben könnte, je nachdem wie lange ihn die Geschäfte in London aufhielten. Außerdem fand zurzeit die Londoner Season statt und sicherlich würde er auch einige gesellschaftliche Verpflichtungen wahrnehmen müssen.
Samantha hatte seit Tagen grundlos schlechte Laune und fühlte sich aus unerklärlichen Gründen bedrückt. Es musste am Wetter liegen. Seit dem Unwetter hatte die Sonne nicht mehr richtig geschienen - und das im Mai! Und natürlich fehlte Captain Helwick, der stets gute Laune und Zuversicht versprühte und eigentlich immer lachte. Selbst Hetta, die sonst immer kühle Gelassenheit ausstrahlte, wirkte seit seiner Abreise bedrückt. Aber wenn Samantha ehrlich zu sich war, was zuweilen vorkam, so lag ihre schlechte Laune weniger am Wetter als an der Tatsache, dass sie Lord Velton vermisste.
Mit einem frustrierten Seufzer schob sie das Buch, das sie gerade in der Hand hielt, auf das obere Regalbrett, das sich ein Stück über ihrem Kopf befand, so dass sie es gerade so erreichen konnte, und griff nach dem nächsten Buch. Sie hatte den Kindern in den letzten Tagen viel vorgelesen, denn die Erkältung war bei beiden hartnäckig gewesen und sie hatten das Bett hüten müssen. Es hatte sich ein beträchtlicher Stapel Bücher angesammelt, den sie jetzt aufräumte. Sie rückte die Bücher im Regal zur Seite, um Platz für das nächste Buch zu schaffen und versuchte dann, den großen Märchenband ins Regal zu schieben. Aber aus irgendeinem Grund passte das Buch nicht richtig ins Regal, obwohl es ein tiefer Bücherschrank war. Da war irgendein Widerstand, aber sie konnte nichts sehen, weil sie zu klein war. Also zog sie das Buch zurück, stellt sich auf die Zehenspitzen und tastete mit ihren Fingern im Regal nach der Ursache. Als sie nichts fand nahm sie auch noch ein paar weitere Bücher heraus und stapelte sie neben sich. Dann fuhr sie erneut tastend mit der Hand über das alte, polierte Holz des Regalbretts und stieß auf etwas, das sich wie Papier anfühlte. Sie zog das zerknitterte Blatt hervor, strich es glatt und als sie erkannte, was es war, stieß sie einen erstickten Laut aus. Es war die fehlende Seite aus dem Notizbuch von Lord Veltons Großvater. Sie erkannte die Schrift sofort, denn sie hatte das Notizbuch in der Zwischenzeit bereits mehrmals durchgelesen und kannte den Schwung, jeden Schnörkel und jeden Bogen der schrägen Handschrift. Sie ließ die Bücher, die noch darauf warteten, einsortiert zu werden, liegen und lief mit dem Blatt hinauf in ihr Zimmer. Das Notizbuch, das Lord Velton in jener Nacht in der Bibliothek gefunden hatte, bewahrte sie ganz unten in einer Schublade ihres Kleiderschrankes auf. Ungeduldig öffnete sie die Flügeltüren des Schrankes und zog schwungvoll die Schublade auf. Schnell hatte sie das Buch gefunden. Sie blätterte schnell aber sorgsam bis zur letzten Seite, strich das einzelne Blatt nochmals sorgfältig glatt und legte die Seite hinein. Man konnte sehen, wo sie herausgerissen war und die Kanten des Papiers passten genau. Das Blatt war zerknittert, die Tinte verblasst, aber man konnte die Schrift noch gut lesen und auch die Zeichnung gut erkennen, die einen Großteil der Seite einnahm. Auf den ersten Blick verstand Samantha nicht, was die verblasste Skizze darstellte, aber als sie sie einige Moment lang betrachtete wurde es ihr klar. Es war der Mondzyklus. Ganz rechts war der Neumond dargestellt, daneben der zunehmende Mond als perfekte Sichel. In der Mitte befand sich der Vollmond und daneben wiederum der abnehmende Mond, wieder als Sichel dargestellt. Der Vollmond im Zentrum war besonders groß und detailliert gezeichnet und drum herum waren Striche, Schnörkel und Wirbel gemalt, die an die Legende einer Landkarte erinnerten. Zwischen diesen Wirbeln konnte man beim genauen Hinsehen eine Spirale erkennen, die ganz sicher die Feensteine symbolisierte. Die Naturgewalt, von der sie auf den vorherigen Seiten des Notizbuches gelesen hatte, war der Mond! Es war eindeutig! Welche Naturgewalt könnte größer und mächtiger sein als der Mond, der sogar die Gezeiten bestimmte und auf alles Mögliche Einfluss hatte. Warum nicht auch auf die Feensteine von Ferywood?
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In Love and War - Geheimnis um Ferywood
FantasyGeister, geheimnisvolle Mächte, eine alte Sage und das Schicksal... Samanthas Leben ist beschaulich und ihre Arbeit im Museum gefällt ihr. Doch dann verirrt sie sich im Wald von Ferywood und findet sich plötzlich im Jahr 1813 wieder. Dort trifft si...