Ferywood 2013
Samantha Stevens schlug die Tür des altersschwachen Renault Clio, der einst rot gewesen war, energisch zu, so dass sie zusammenzuckte und einen Moment lang glaubte, der Seitenspiegel, der nur notdürftig mit Klebeband an Ort und Stelle gehalten wurde, würde endgültig abfallen. Der Spiegel hielt jedoch und sie schulterte ihre große Handtasche und einen weißen Kleidersack. Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie vorhin hastig zu einem Knoten hochgesteckt, aber sie spürte, wie sich die Frisur schon wieder auflöste. Egal, sie hatte die Hände voll und hatte es eilig. Sie lief durch den Nieselregen zum Eingang des kleinen Museums von Ferywood. Es war in einem ehemaligen Schulhaus untergebracht und winzig, aber es war Samanthas Reich.
„Hallo Samantha, Liebes!", rief Mrs Moore, eine kleine mollige Dame von Mitte fünfzig, mit angegrautem dauergewelltem Haar und einem freundlichen Lächeln. Sie trug gerade einen Korb frischer Backwaren ins Café, das an das Museum angeschlossen war. Wenn Samantha an ihrem Schreibtisch saß, hatte sie die ganze Zeit den Duft von Gebäck und Kaffee in der Nase. Auch an diesem Morgen duftete es herrlich und Samanthas Magen meldete sich mit einem vernehmbaren Knurren.
„Noch nicht zum Frühstücken gekommen, hmm?"
„Hallo Susan", Samantha lächelte verlegen. „Ich habe verschlafen und hatte keine Zeit zum Frühstücken."
„Du siehst auch müde aus. Warst gestern aus, was?" Mrs Moore zwinkerte verschwörerisch.
„Ähm, nein. Ich habe bis spät in die Nacht genäht."
„Genäht? Also wirklich! Mit euch jungen Dingern ist heutzutage auch nichts mehr los. Also zu meiner Zeit -", murmelte Mrs Moore kopfschüttelnd und begann Scones und Muffins in die Auslage zu räumen.
Samantha seufzte. „Ähm, Susan? Könntest du mir einen Tee machen, bitte?"
„Aber sicher, Liebes!" antwortete Mrs Moore über die Schulter und lächelte ihr mütterlich zu.
Samantha schlüpfte hinter die Kasse und bereitete alles für den heutigen Tag vor. Das Museum war ein kleines Heimatkundemuseum, das sich hauptsächlich durch das von Mrs Moore geführte Café über Wasser hielt und einigen Kursen und Events, die Samantha sich für Schulkinder und Geschichtsinteressierte ausdachte. Die ausgestellten Exponate waren hauptsächlich Gegenstände des täglichen Lebens aus früheren Zeiten sowie einigen Leihgaben der Adelsfamilie, die jahrhundertelang das Leben hier geprägt hatte. Noch heute gab es einen Lord Velton in Ferywood Manor, wie das alte Herrenhaus oben auf dem Hügel hieß, auch wenn die Familie die Geschicke der Gegend schon lange nicht mehr lenkte. Ferywood war eine Kleinstadt, eher ein größeres Dorf, im Süden Englands. Samantha war hier aufgewachsen, war zur Schule gegangen und hatte es schließlich zum Studieren verlassen und war nach London gezogen. Als sie kurz vor ihrem Abschluss in Kunstgeschichte gestanden hatte, hatte sie erfahren, dass ihr Vater an Krebs erkrankt war. Samanthas Mom war schon vor über zehn Jahren gestorben und es war selbstverständlich für sie gewesen, ihr Studium hintenanzustellen, um sich um ihren Dad zu kümmern. Damals hatte sie auch die Stelle im Museum angenommen, aber mittlerweile war ihr Vater schon seit sechs Monaten tot und sie arbeitete immer noch hier, obwohl sie längst hätte nach London zurückkehren können, aber sie konnte sich noch nicht vorstellen wieder in das hektische, laute London zurückzukehren, auch wenn sie wusste, dass es das einzig Richtige wäre. Aber sie mochte ihren Job und ihr beschauliches Leben in Ferywood, in dem es keine großen Überraschungen gab. Das kleine Museum war ihr Reich und es störte sie auch nicht, dass sie an den Wochenenden mal im Café aushelfen musste, wenn viel los war. Am kommenden Wochenende sollte allerdings ein Ereignis in Ferywood Manor stattfinden, auf das sie sich seit Wochen vorbereitete: Ein Regency-Festival mit Lesungen, Kursen und als besonderen Höhepunkt einem Ball. Samantha war von Lord und Lady Velton, die das Festival ausrichteten, gebeten worden, bei der Planung und Organisation zu helfen, denn sie kannte sich mit dieser Epoche gut aus und hatte selbst jahrelang in einer Tanzgruppe, die sich auf die Tänze aus dieser Zeit spezialisiert hatte, mitgewirkt und all ihre historischen Kleider selbst genäht. Die frischgebackene Lady Velton hielt sich für einen großen Jane Austen-Fan und hatte die Idee für die Veranstaltung gehabt und ihr um viele Jahre ältere Mann unterstützte sie dabei. Samantha machte die Organisation Spaß, auch wenn Lady Velton manchmal ein wenig anstrengend sein konnte, besonders jetzt, da es, kurz vor dem Wochenende, in die heiße Phase ging. Samantha wunderte sich daher nicht, als kurz nach ihrer Ankunft im Museum das Telefon klingelte.
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In Love and War - Geheimnis um Ferywood
FantasíaGeister, geheimnisvolle Mächte, eine alte Sage und das Schicksal... Samanthas Leben ist beschaulich und ihre Arbeit im Museum gefällt ihr. Doch dann verirrt sie sich im Wald von Ferywood und findet sich plötzlich im Jahr 1813 wieder. Dort trifft si...