Vom Suchen und Finden

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Es fühlte sich falsch an, mit Hetta im Schatten eines Apfelbaums zu sitzen, während überall um sie herum Tod, Verwüstung und Elend herrschten. Sie konnten von ihrem Platz aus beobachten wie Verwundete, die noch gehen konnten, auf der Suche nach Hilfe oder Soldaten, die die Erlaubnis erhalten hatten die Truppe zu verlassen, um Angehörige oder Freunde zu suchen, durch das Dorf irrten und sie sahen die Karren, die in einer nicht enden wollenden Prozession Verwundete zum bereits überfüllten Lazarett brachten. Samantha nahm die furchtbaren Bilder wahr, aber sie konnten sie nicht tiefer berührten. Ihre Gedanken kreisten einzig und allein um Richard. Sie wusste nicht, wie lange sie in dem Schatten des Baumes saßen, vermutlich war es nicht sehr lange, aber ihr kam jede Minute der Ungewissheit wie eine Ewigkeit vor. Irgendwann kam Parkin in Begleitung eines Offiziers zurück, dessen Uniform in schmutzigen Fetzen hing und dessen blasses Gesicht unter der dicken Schicht aus Schmutz und getrocknetem Schweiß kaum zu erkennen war.

„Gott sei Dank!", rief Hetta aus, sobald sie Captain Helwick erkannte. Sie stand stolpernd auf und fiel in seine Arme. Sein Bein, mit dem er seit einer Verwundung während des Spanienfeldzugs humpelte, war bandagiert, aber er lächelte über das ganze schmutzige Gesicht, als er Hetta an sich presste.

„Du lebst, aber was ist mit deinem Bein?", rief die sonst so gefasste Hetta aufgelöst und berührte dabei immer wieder mit fahrigen Fingern sein schmutziges Gesicht, als müsste sie sich vergewissern, dass er es war.

„Ein Kratzer", behauptete er, fing Hettas fliegende Finger ein und hielt sie sehr fest in seinen Händen. „Es ist sowieso bloß das hinkende Bein, mit dem längst nicht mehr viel anzufangen war."

Hetta lächelte voller Erleichterung zu ihm auf.

Samantha freute sich für Hetta und den Captain, aber wenn ihr jemand sagen konnte, wo Richard war, dann er. Also räusperte sie sich im Hintergrund, um auf sich aufmerksam zu machen. „Gott sei Dank sind Sie wohlauf, Captain, aber sagen Sie mir, wo Richard ist... bitte."

Das letzte Wort kam als leises, brüchiges Flehen heraus und veranlasste Captain Helwick dazu, Hetta loszulassen und mit besorgter, betroffener Miene Samanthas Hand zu ergreifen. „Hat euch denn meine Nachricht nicht erreicht?"

„Nein", antwortete Hetta. „Wir wissen von keiner Nachricht." Nach der Freude, ihn wiederzusehen, war jetzt die Sorge um ihren Bruder zurückgekehrt und auch ihre Stimme klang brüchig. „Was ist mit Richard, Andrew?"

Captain Helwick, seit drei Tagen praktisch ohne Schlaf und von dem Erlebten selbst vollkommen erschüttert, hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen und sie in Worte zu fassen. Sein Gehirn schien nach all den Strapazen und der Anspannung nicht mehr richtig zu funktionieren. „Ich habe euch eine Nachricht geschickt. Sie hätte euch längst erreichen sollen. Ich verstehe nicht, warum -. Nun es herrschte Chaos und eine solche Aufregung, dass vielleicht –, aber jetzt ist es ja auch egal. Richard, er -." Er unterbrach sich immer wieder und warf Samantha einen gequälten Blick zu. Dann ließ er den Blick dann zu Hetta schweifen, aber er sprach nicht weiter.

„Schonen Sie mich nicht, Captain", forderte Samantha ihn mit zittriger Stimme auf. „Ein Soldat auf dem Verwundetentransport nach Brüssel sagte, Richard sei tot. Sagen Sie mir, wo ich seine Leiche finde, bitte Captain. Denn ich kann es nicht glauben, ehe ich ihn gesehen habe. U- und ich muss ihn doch b- beerdigen."

„Richard ist nicht tot", sagte er endlich, ihre offensichtliche Verzweiflung, die sie so mühsam zu beherrschen versuchte, kaum ertragend. „Er lebt - aber – aber gerade noch so. Die Granate – es war-." Er unterbrach sich erneut, holte tief Luft und sammelte sich. „Er hat sehr viel Blut verloren, aber er lebte, als wir ihn wegbrachten."

„Er lebt! Das ist alles, was ich wissen muss", sagte Samantha und atmete zum ersten Mal seit Stunden wieder auf, aber dann blickte sie in Helwicks müdes Gesicht, das unverändert ernst aussah und wusste, dass ihre Zuversicht verfrüht gewesen war. „Was ist, Captain?"

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt