Traum und Wirklichkeit

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Bath, Februar 2015

Zum wiederholten Mal strich sich Samantha eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr und versuchte, sich auf die Tabelle auf dem Computerbildschirm vor sich zu konzentrieren, aber es fiel ihr schwer. Heute Nacht war Vollmond  und obwohl sie die Vergangenheit seit Monaten hinter sich gelassen hatte und letztendlich Ferywood verlassen hatte, in dem sie den Job im Fashion Museum in Bath angenommen hatte, ließ es sie einfach nicht los. Es war wie dieses Gefühl, das einen manchmal befällt, wenn man das Haus verlässt und man dann plötzlich überzeugt ist, den Herd angelassen zu haben, man sich dessen aber nicht sicher ist. Nur, dass sie keinen Herd angelassen hatte. Stattdessen hatte sie eine bewusste Entscheidung getroffen und nichts unerledigt zurückgelassen. Oder doch? 

Wieder hatte sich die Haarsträhne gelöst und mit einer weiteren Handbewegung, diesmal einer energischeren, strich sie die Haare wieder zurück. Wie hatte sie nur glauben können, ein neuer Haarschnitt wäre die Lösung ihrer Probleme? Ihre beste Freundin Lucy war dieser Ansicht. Es war quasi ihr Lebensmotto, denn nach jedem missglückten Date hatte sie entweder einen neuen Haarschnitt, ein anderes Styling oder Strähnchen in einer anderen Farbe. Als Samantha, durcheinander und bedrückt aus der Vergangenheit zurückgekehrt war, hatte sie sich von Lucy überreden lassen, ihre hüftlangen Haare zu einem kinnlangen Bob schneiden zu lassen, als Zeichen ihres Neuanfangs. Samantha hatte die Frisur von Anfang an gehasst. Inzwischen waren die Haare wieder einige Zentimeter nachgewachsen, aber sie kam noch immer nicht damit klar. Ihr Haar war schon immer leicht wellig gewesen, aber jetzt stand es in alle Richtungen ab und wenn sie versuchte, die Haare mit Klammern zu bändigen, sah sie aus wie zwölf und nicht wie fast sechsundzwanzig.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken und sie zuckte zusammen. Normalerweise hatte sie den Ton aus, aber sie hatte den Anruf erwartet.

„Hey, Robin."

„Hey", antwortete er am anderen Ende der Leitung. „Alles klar?"

„Ja, sicher und bei dir? Ich hoffe, du rufst nicht an, um mir zu sagen, dass dein Auto kaputt ist."

Er lachte, es war ein angenehmes Lachen. „So wie deine Schrottlaube?", konterte er. „Ich wollte dich nur fragen, ob es dabei bleibt, dass ich dich um 16 Uhr abhole? Direkt am Museum?"

„Ich hoffe sogar, dass du mich hier um 16 Uhr abholst, denn ich habe mein ganzes Gepäck heute Morgen mit dem Bus hergeschleppt." Sie warf einen Seitenblick auf den Koffer und die Reisetasche, die sie in die Ecke ihres Büros gestellt hatte, damit niemand darüber fiel.

„Es wird Zeit, dass du dir ein richtiges Auto kaufst."

„Ich brauche kein neues Auto."

„Eins, das fährt", präzisierte er.

Das war ein schlagendes Argument, musste Samantha mit einem Grummeln zugeben, denn ihr guter alter Renault Clio, der dank Philipp Latimer eine neue Batterie bekommen hatte, und anschließend monatelang wieder gefahren war, hatte vor einigen Tagen einen wirtschaftlichen Totalschaden erlitten, als ihr ein Kleinlaster drauf gefahren war. Zum Glück war ihr nichts passiert, aber das Auto war hinüber und das gerade jetzt, da sie nach Ferywood fahren musste, um gemeinsam mit Robin eine historische Tanzveranstaltung zu planen. Außerdem stand der Verkauf ihres Cottages an. Philipp Latimer hatte für sie einen Käufer gefunden und die Verträge aufgesetzt und es wurde Zeit, das Haus leerzuräumen. 

„Macht dir der Umweg echt nichts aus?"

„Es ist kein großer Umweg. Außerdem macht die Fahrt zu zweit mehr Spaß."

„Ach echt?", gab sie zweifelnd zurück.

Er lachte erneut und sie verabschiedeten sich voneinander.

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt