Samantha warf ihre Handtasche auf den Küchentisch und rieb sich müde über das Gesicht. Es war erst halb sieben, aber der Nachmittag war anstrengend gewesen. Man begegnete schließlich nicht jeden Tag einem Geist. Noch dazu einem, der einen beim Namen kannte und den sie aus einem verrückten Traum kannte, von dem besagter Geist behauptete, es sei gar kein Traum, sondern die Wahrheit. Allein bei dem Gedanken erschauderte sie.
Samantha war froh, aus Ferywood Manor fortgekommen zu sein. Während Lady Veltons freundlichem, aber nervtötendem Geplapper und in der Gegenwart des Geistes, der sich die ganze Zeit nicht von seinem Platz am Kamin fortbewegt hatte als wäre er eine Statue, hatte sie keinen klaren Gedanken fassen können. Lord Veltons Blick, der auf ihr ruhte, als würde ihm der Umstand tot zu sein das Recht verleihen sie anzustarren, war ihr irgendwann so unangenehm geworden, dass sie ihm eine Grimasse gezogen hatte, was ihn unverschämterweise zu Grinsen veranlasst hatte. Er mochte tot sein, aber er benahm sich unmöglich! Als sie schließlich die zweite Tasse Tee ablehnt und ihr Sandwich verspeist hatte und sie sich von Lady Velton ein wenig zu schnell verabschiedet hatte, fürchtete sie er würde ihr folgen, aber er tat es nicht.
Samantha machte sich noch eine Tasse Tee und ging durch den Flur ins Wohnzimmer des alten gemütlichen Cottage, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Im Flur blieb sie vor dem Spiegel stehen und warf einen Blick auf ihr blasses Gesicht. Dabei betrachtete sie sich recht kritisch. Ihr Teint war zu blass, ihr Gesicht etwas zu rund, die Lippen zu schmal, die Nase war annehmbar gerade, aber das Schönste an ihr waren ihre großen smaragdgrünen Augen, die ihr jetzt unter schmalen Brauen müde entgegenblickten. Ihre Frisur hatte sich mittlerweile komplett aufgelöst und wirre Strähnen kastanienbraunen Haars standen in alle Richtungen ab. Sie mochte ihr dichtes, langes Haar, aber es war schwer, es zu bändigen. Erstaunlich, dass sich Lord Veltons Geist bei ihrem Anblick nicht erschrocken davon gemacht hatte. Samantha musste bei dem Gedanken lächeln und stellte ihre Tasse ab, um sich die Frisur zu richten. Sie hantierte gerade mit Haargummis und Klammern, als es an der Tür klingelte.
„Komme gleich!", rief sie über die Schulter und steckte hastig die letzten beiden Klammern fest.
„Na endlich!", rief die zierliche junge Frau an der Tür, als Samantha öffnete. Sie hatte ein schmales Gesicht und ziemlich kurzes braunes Haar. Um den Hals hatte sie sich einen buntgestreiften Wollschal gewickelt, der so lang, war, dass er ihr bis übers Knie baumelte. Dazu trug sie eine schwarze Jeans und einen knallroten Pullover.
„Hi Lucy, was machst du denn hier?"
„Ist das eine Begrüßung für deine beste Freundin?", rief ihr Gegenüber aufgebracht. „Schon vergessen? Heute ist Mädelsabend."
„Heute?!", rief Samantha, die die Verabredung vollkommen vergessen hatte, und verzog unwillig das Gesicht.
„Ja, heute!", antwortete Lucy, die Samanthas Gesichtsausdruck geflissentlich ignorierte. „Jetzt komm' mir aber bloß nicht damit, dass du heute noch so viel zu tun hast oder so was. Die Ausrede bringst du seit Wochen. Du gehst heute mit mir aus."
„Oh, Lucy -"
„Nix da! Keine Widerrede. Du musst unter Leute. Es ist nicht gut, dich hier mit deinen Geschichtsbüchern und Nähnadeln zu vergraben."
Lucy hatte sich schon an Samantha vorbei geschoben, ihre Jacke an die überfüllte Garderobe gehängt, ihre Tasche daneben geworfen und war auf dem Weg ins Wohnzimmer.
„Lucy, der Regency-Ball ist dieses Wochenende und ich habe wirklich noch viel zu tun. Können wir unseren Abend nicht auf nächste Woche verschieben?"
„Lass mich kurz überlegen", Lucy machte ein übertrieben nachdenkliches Gesicht und kratzte sich mit einem lila lackierten Fingernagel am Kinn. „Nein! Wir gehen ins Logan's. Da tritt heute eine neue Band auf und da will ich hin. Alle werden da sein."
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In Love and War - Geheimnis um Ferywood
FantasyGeister, geheimnisvolle Mächte, eine alte Sage und das Schicksal... Samanthas Leben ist beschaulich und ihre Arbeit im Museum gefällt ihr. Doch dann verirrt sie sich im Wald von Ferywood und findet sich plötzlich im Jahr 1813 wieder. Dort trifft si...