Vollmond - Teil 2

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Samantha wartete, bis es still im Haus wurde. Sie saß voll angekleidet auf ihrem Bett und lauschte auf die ihr vertrauten Geräusche der Nacht. Sie hörte Maria mit schnellen, trippelnden Schritten und raschelnden Röcken zu Hetta eilen und sich kurz darauf wieder entfernen. Dann Lord Veltons Kammerdiener, der mit bedächtigerem Schritt das Zimmer seines Herrn verließ und versuchte, die Tür leise zu schließen, was ihm aber wie immer nicht gelang. Im Erdgeschoss wurde eine Tür geschlossen und dann machte Pelham mit seinem großen Schlüsselbund seine übliche Runde, um zu überprüfen, ob alle Türen und Fensterläden gut verriegelt waren. Erst als sich das Klappern der Schlüssel in Richtung Souterrain entfernte wagte Samantha sich aus ihrem Zimmer hinaus. Es war dunkel, aber der Mond schien in dieser Nacht so hell, dass sie den Weg zur Hintertreppe ohne Kerze fand. Es gelang ihr auch mühelos den Riegel im Dunkeln zurückzuschieben und leise hinauszuschlüpfen. Die Nachtluft war kühl und feucht, aber sie hatte diesmal auf Lord Veltons Rat gehört und einen Mantel angezogen. Trotzdem fröstelte sie, aber eher vor Nervosität als vor Kälte.

Zielstrebig ging sie über den dunklen Stallhof und dann durch den Park. Es war sehr still und das Mondlicht warf eigentümliche Schatten, aber Samantha fürchtete sich nicht vor den Schatten, eher davor, entdeckt zu werden. Sie blieb gelegentlich stehen, um sich zu orientieren. Dann warf sie einen Blick zurück zum Haus und stellte fest, dass alles dunkel war. Sie kannte den Weg genau, aber heute Nacht erschien er ihr sehr lang. Sie kam an der Stelle mit der riesigen Rhododendronhecke vorbei, wo sie Lord Velton nach ihrer ersten Nacht in Ferywood Manor getroffen hatte. Sie erinnerte sich an seine Hartnäckigkeit und wie sehr sie sich über ihn geärgert hatte. Das schien so lange her zu sein.

Dann gelangte sie zum Waldrand und zögerte. In der Dunkelheit wirkte der alte Laubwald unheimlich und noch düsterer als bei Tag. Sie warf einen letzten Blick zurück zum Haus, das sie von hier schon bei Tag nur noch teilweise sehen konnte, jetzt war es nur ein dunkler kantiger Umriss vor einem noch dunkleren Himmel. Entschlossen wandte sie sich um und ging in den Wald. Sie setzte ihre Schritte langsam und bedacht, um nicht über Wurzeln zu stolpern oder im Dornengestrüpp hängen zu bleiben, aber sie hatte keine Schwierigkeiten, dem schmalen Pfad zu folgen. Sie war noch nicht weit gegangen, als sie das Flüstern der Stimmen vernahm und sie wusste, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand. Diesmal überraschte das Gemurmel Samantha nicht. Sie hatte damit gerechnet und wusste, dass die Aufzeichnungen recht hatten. Sie war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, aber ihr schnellschlagendes Herz war schwer. Ihr Atem beschleunigte sich mit ihren Schritten, aber je schneller sie ging, desto schwerer schien es ihr, vorwärtszukommen. Ihre Beine fühlten sich bleischwer an und es war als müsse sie sich gegen einen Sturm stemmen, bloß dass es vollkommen windstill war. Die Stimmen wurden lauter, je weiter sie in den Wald hineinging, aber irgendetwas war dennoch anders als in jener Nacht, als sie im Jahr 2013 denselben Weg gegangen war. Damals hatten die Stimme etwas Lockendes, Verheißungsvolles an sich gehabt. Sie hatte sich von ihnen angezogen gefühlt und sogar geglaubt, ihren Namen zu hören. Jetzt wirkte das unverständliche Geflüster irgendwie aufgebracht, als wäre sie nicht willkommen. Aber sicherlich täuschte sie bloß die Erinnerung. Schließlich hatte sie damals nicht gewusst, was sie jetzt wusste. Sie folgte dem Pfad zielstrebig weiter und lauschte auf das Flüstern, bis sich das Dickicht lichtete und sie bei der Lichtung anlangte. Die vom Mondlicht beschienen Steine befanden sich nur wenige Schritte von ihr entfernt. Sie trat auf die Lichtung ins Mondlicht und das Flüstern wurde noch lauter.

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Nachdem Richard seinen Kammerdiener entlassen hatte, verfiel er bald in einen unruhigen Schlaf. Er hatte nie Probleme mit dem Einschlafen, die Probleme kamen mit den Träumen, die ihn seit Spanien verfolgten. Auch heute träumte er, aber nicht von dem Trommlerjungen und nicht vom Feuer. Im Traum ging er durch den dunklen Park. Am Himmel stand derselbe helle Vollmond, den er auf der Heimfahrt mit Samantha betrachtet hatte. Er ging über den Rasen, ohne zu wissen, wohin er ging. Seine Beine trugen ihn wie von selbst immer weiter auf den Wald zu. Dann sah er Samantha. Das war bemerkenswert, selbst für sein träumendes Ich, denn seit sie hier bei ihm in Ferywood war, hatte er sie in seinen Träumen nicht mehr gesehen. Sie war weit vor ihm und ging, ohne sich seiner Gegenwart gewahr zu werden, in Richtung Wald. Ihr dunkler Mantel hob sich kaum von dem finsteren Hintergrund der Bäume ab, aber dann drehte sie sich um und der Mond beschien ihr blasses, ernstes Gesicht. Richard stand vielleicht dreißig Schritte von ihr entfernt und sie sah direkt zu ihm herüber, aber sie schien ihn nicht zu bemerken, stattdessen sah sie an ihm vorbei zum Haus, stieß einen Seufzer aus, wandte sich dann um und ging weiter. Als sie den Wald erreichte, nahm sie entschlossen den schmalen Pfad, der tiefer in den Wald hineinführte. Dann hielt sie inne. Auch Richard hörte das Stimmengemurmel in den Bäumen. Er folgte ihr weiter, bemerkte, dass sich ihre Schritte verlangsamten und hörte wie die Stimmen lauter wurden je weiter sie ging, bis sie schließlich die Lichtung mit den Feensteinen erreichte. Die Stimmen dröhnten jetzt unangenehm schrill in seinen Ohren, aber es war noch immer nur ein Gemurmel, keine Worte und keine Sprache waren zu verstehen. Samantha sah sich um, als wolle sie sehen, ob sie allein war, aber sie bemerkte ihn auch jetzt nicht. Er blieb auf Abstand zwischen den Bäumen, ein heimlicher Beobachter. Er wusste, warum sie hier war. Sie musste eine Möglichkeit gefunden haben, durch die Steine zu gehen. Die Erkenntnis, dass sie es ihm verschwiegen hatte, traf ihn hart. Aber es war schließlich nur ein Traum, ein Trugbild. Nur ein Ausdruck seiner Sorge, er könne sie verlieren. Er sah, wie sie die paar Schritte über den weichen Rasen zurücklegte und direkt vor den Steinen stehen blieb. Sie stand aufrecht da, genauso stolz und aufrecht, wie er sie damals das erste Mal im Feuer erblickt hatte. Auch heute Nacht fiel ihr langes, welliges Haar offen über ihre Schultern. Samanthas Blick war auf die Feensteine gerichtet. Die aus Steinen geformte Spirale wurde vom Mondlicht beschienen und jede der verwaschenen Gravuren war im Mondlicht gut zu erkennen. Ein kleiner Schritt noch. Sie zögerte. Irgendetwas hielt sie zurück. War es Furcht, oder etwas anderes?

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt