Trügerischer Friede

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Im Wald von Ferywood 1814

Das Stimmengemurmel, das während Samanthas Verschwinden wieder zu einem Kreischen angeschwollen war, ebbte erneut ab, verschwand aber nicht ganz. Richard nahm es jedoch kaum  wahr, seine Ohren hatten sich daran gewöhnt und seine Gedanken waren bei ihr. Er ließ die Hand, die er nach Samantha ausgestreckt hatte, langsam sinken und fiel, aller Energie beraubt, neben der Steinspirale auf die Knie.

Die durch das dichte Gestrüpp und Unterholz sich nähernde Gestalt brauchte noch zwei volle Minuten, bis sie auf der Lichtung ankam. Das war die Zeit, die Richard blieb, um seine Fassung wiederzuerlangen, aber es kostete ihn fast übermenschliche Anstrengung. Er hatte wahrlich schon schreckliche Szenen erlebt, aber Samanthas Anblick, der Blick voll Agonie, die Lippen im Schmerzensschrei verzerrt, hatte sich unauslöschlich in seine Netzhaut eingebrannt. Hätte er bloß eine Sekunde schneller reagiert, hätte er sie vielleicht zurückhalten können, aber er hatte nurmehr ins Leere gegriffen und von ihr war nichts übriggeblieben, als ein schwaches elektrisches Flimmern in der Luft, wie die aufgeladene Atmosphäre kurz vor einem Gewitter.

Richard erhob sich, als die sich nähernde Gestalt aus den Schatten des Waldes hervortrat und zwang sich, ruhiger zu atmen. Wie Samantha vor wenigen Minuten vermutet hatte, war es Frederick Whiteshaw. Er musste im Dunkeln vom Weg abgekommen sein, denn er trat ein ganzes Stück zu weit links von dem Trampelpfad auf die Lichtung. Kein Wunder hatte er so lange gebraucht, um hierher zu kommen. Bis auf den schmalen Trampelpfad war das Unterholz unwegsam und undurchdringlich und Frederick Whiteshaw stolperte zerzaust, abgehetzt und gedämpft vor sich hin fluchend, auf die Lichtung, während er sich noch von Brombeer- und Efeuranken befreite. Seine modische Windstoß-Frisur war mehr in Unordnung, als sie es hätte sein sollen und sein Rock war voller Laub und Kletten. Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass es einen Moment dauerte, bis er in der Dunkelheit die leblose Gestalt am Boden bemerkte.

„Oh Gott!", stieß Frederick dann jedoch erschrocken aus und machte einige schnelle Schritte auf seinen Bruder zu. Erst jetzt wurde er der noch weiter im Schatten stehenden aufrechten Gestalt Lord Veltons gewahr und hielt abrupt inne. Seine Hand wanderte reflexartig zu der Jagdflinte, die er über der Schulter trug. „Lord Velton! Was hat das zu bedeuten? Mein Bruder -", stammelte der junge Mann mit einer Stimme, die vor Aufregung seltsam schrill klang.

Richards Blick folgte Fredericks Hand, die sich um den Lauf der Flinte geschlossen hatte. Selbst wenn die Waffe geladen gewesen wäre, was Richard bezweifelte, wirkte das Gebaren des jungen Mannes nichts so, als wäre er bereit, auf einen Menschen zu schießen. Richard glaubte nicht, dass er je auf etwas größeres als einen Hasen oder ein Fasan geschossen hatte. Frederick hatte Skrupel und wirkte unsicher.

Richards Haltung dagegen war militärisch gerade, die Miene undurchdringlich, die Stimme kräftig und kühl, als er jetzt sprach. „Auch ich wüsste gerne, was das zu bedeuten hat."

Richard ließ ganz bewusst den überheblichen Offizier und Aristokraten heraushängen, weil er wusste, dass er Frederick damit einschüchterte. Tatsächlich wirkte Frederick, als würde er kaum wagen, sich zu bewegen, weil er annehmen musste, Lord Velton sei bewaffnet. Schließlich hatte Frederick einen Schuss gehört und außer Lord Velton war niemand hier. Richards leere Hände schien er gar nicht zu bemerken. Samanthas leergeschossene Pistole steckte zwar zusammen mit dem Messer, mit dem Victor Whiteshaw sie bedroht hatte, in Richards Rocktasche, aber Frederick konnte beides nicht sehen.

„Was haben Sie auf meinem Land zu suchen?", fragte Richard schroff.

„Ich habe einen Schuss gehört. Mein Bruder, was ist mit ihm –?"

„Ich habe ihn jedenfalls nicht erschossen, wenn es das ist, was Sie vermuten." Richards Stimme klang kalt wie Eis.

„Aber der Schuss -?", stammelte Frederick. Dann überwog jedoch die Sorge um seinen Bruder und er wagte es, sich dessen leblosen Körper zu nähern. Richard machte keine Anstalten ihn daran zu hindern. Allerdings ließen sie einander auch nicht aus den Augen. Richard war sich nach wie vor nicht sicher, wie weit Frederick in die Intrigen seines älteren Bruders involviert gewesen war. Aber da es dem jungen Mann an jeglicher Kaltblütigkeit mangelte, etwas von dem Victor mehr als genug gehabt hatte, nahm Richard an, dass Frederick gänzlich ahnungslos war.

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt