Samantha versuchte sich zum Sitzen hochzurappeln, aber ihr taten die Rippen und der Kopf weh und sie verzog schmerzhaft das Gesicht. Richard legte ihr vorsichtig die Hand in den Rücken und half ihr auf.
„Ich war acht Jahre alt und mit meiner Mutter und meinem Bruder zu Besuch hier. Unsere Väter waren irgendwie verwandt, nicht wahr?"
Richard zog sich sein Halstuch vom Hals und wickelte es ihr als provisorischen Verband um den Kopf.
„Sie waren Großcousins", bestätigte er während er vorsichtig den Verband anlegte und den letzten Stoffzipfel feststeckte.
Er versuchte sich daran zu erinnern, was er selbst über die Ereignisse von damals wusste. Es war so lange her, fast zwanzig Jahre. Seine Mutter hatte damals, in einem seltenen Anflug von Wohltätigkeit oder Langeweile, die frisch verwitwete entfernte Verwandte Mary Hedgeworth und ihre Kinder für den Sommer nach Ferywood Manor eingeladen. Er war selbst noch ein Junge gewesen und zu der Zeit in Eton zur Schule gegangen, ebenso Charles, und Hetta hatte jenen Sommer in Bath bei ihrer Patentante verbracht. Er hatte die kleine Cousine, die spurlos verschwunden war, nie kennen gelernt, hatte aber die Geschichten gehört, die sich die Leute später darüber erzählt hatten. Es war am Jahrmarktstag gewesen, als das Mädchen, Samantha, spurlos verschwunden war. Jeder hätte das Kind in dem Gedränge entführen können, aber als man es nirgends fand, verdächtigte man die Zigeuner, die wie jedes Jahr in der Nähe kampiert hatten. Am nächsten Morgen waren die Zigeuner verschwunden und obwohl es keine Beweise gab, hielt sich das Gerücht hartnäckig, das Mädchen wäre von Zigeunern entführt und verkauft worden.
„Du warst dieses Mädchen, das damals verschwunden ist", flüsterte er. „Man hat damals angenommen, die Zigeuner hätten dich entführt, aber in dem Fall -"
„Ich wurde nicht entführt. Ich habe meine Mutter auf dem Jahrmarkt im Gedränge verloren und wollte allein zum Manor laufen, aber ich kannte mich nicht gut aus und bin in den Wald geraten und zu der Lichtung mit der Steinspirale gekommen. Ich erinnere mich wieder, dass ich die Stimmen gehört habe. Sie haben mir Angst gemacht und als ich fortlaufen wollte bin ich an den Steinplatten hängen geblieben, hingefallen und in der Zukunft wieder zu mir gekommen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie ich dorthin gekommen war. Aber wie war das am helllichten Tag möglich?"
Samantha kniff sie die Augen zusammen. So klar manche Erinnerungen an damals plötzlich waren, so verschwommen waren andere und ihr Kopf tat weh vom Sturz und das Nachdenken verschlimmerte den Schmerz noch.
„Es war die Kette! Ich hatte die Halskette mit dem Rosenquarz bei mir", erinnerte sie sich nach einigen Augenblicken. „Lady Amalia hatte sie meiner Mutter ausgeliehen und ich habe sie genommen, um damit zu spielen. Natürlich hatte es meine Mutter verboten und als wir zum Jahrmarkt gingen habe ich die Kette in meiner Rocktasche versteckt, um sie bei nächster Gelegenheit zurückzulegen, aber dazu bin ich nicht mehr gekommen. Jetzt ist auch klar, wie die Kette in die Schatulle meiner Pflegemutter gekommen ist. Es passt alles zusammen, oder?"
Richard sah in ihrem Blick, dass sie seine Bestätigung brauchte, dass er sie nicht für übergeschnappt hielt und ihr glaubte. Er nickte langsam, war selbst ganz bewegt und fassungslos. Gleichzeitig bedeutete es ihm viel, dass sie sich an ihn wandte, dass sie auf irgendeine Art und Weise noch immer Freunde waren, obwohl sie gesagt hatte, sie wünschte, sie wäre ihm nie begegnet.
„Ja, ja, es passt alles zusammen", sagte er, aber Sorge schwang in seiner Stimme mit. „Du darfst dich nicht so sehr anstrengen. Ich sehe dir an, dass du Schmerzen hast."
Jetzt, da sich Samantha erinnerte, konnte sie aber nicht mehr damit aufhören. Endlich hatte sich der Nebel in ihrem Kopf gelichtet und immer neue vergessene Erlebnisse drangen an die Oberfläche. Unbewusst griff sie nach Richards Hand. Sie brauchte ihn als Anker in der Flut der Erinnerungen.
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In Love and War - Geheimnis um Ferywood
FantasiGeister, geheimnisvolle Mächte, eine alte Sage und das Schicksal... Samanthas Leben ist beschaulich und ihre Arbeit im Museum gefällt ihr. Doch dann verirrt sie sich im Wald von Ferywood und findet sich plötzlich im Jahr 1813 wieder. Dort trifft si...