Die Rettung

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Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten im nahen Wald, im Gras summten die Insekten und eine ganz schwache salzige Briese wehte vom Meer herüber, ließ das sattgrüne Laub der Bäume rascheln, das ungeschnittene Gras sich wiegen und milderte die Hitze des Junitages.

Samantha spazierte allein durch den Park von Ferywood Manor, ihr Zuhause. Ihr Gesicht wurde von einem breitkrempigen Strohhut beschattet. Eine kecke Schleife saß unter ihrem Kinn und hielt die ansonsten eher schlichte Haube an ihrem Platz. Samantha wandelte ziellos umher. Der Saum ihres Kleides strich über das Gras. Wie schon früher, in der Zukunft, als ihr Vater hier Gärtner gewesen war, genoss sie die Ruhe und den Frieden des großen Parks. Den Wald mied sie, denn sie hatte zu viel Zeit damit verbracht, die Geheimnisse der Feensteine zu ergründen, als dass sie, jetzt da ihre Suche vorüber war, den Wunsch verspürt hätte dorthin zu gehen. Schließlich lenkte sie ihre Schritte zum Rosengarten. Sofort umfing sie der Duft der in frischem weiß leuchtenden, gelb und allen erdenklichen Schattierungen von Rosa und Rot erblühenden Rosen. Genüsslich schloss sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken und sog den betörenden Duft tief ein.

Plötzlich ließ sie eine Berührung an der Schulter erschrocken zusammenfahren.

„Ich bin es nur."

Sie wirbelte herum. „Richard!", rief sie aufgebracht aus und blickte ihn vorwurfsvoll an.

„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken", sagte er reumütig, aber sein Grinsen und der Schalk in seinen Augen strafte seinen Tonfall Lügen.

„Oh, du!", stieß sie aus, musste dann aber lachen. „Das machst du absichtlich."

„Das würde ich nie", gab er mit einem verschmitzten Lächeln zurück.

Er wirkte so gut gelaunt, dass sie ihm nicht böse sein konnte. Dafür war sie selbst viel zu glücklich. Samantha lächelte zu ihm auf und er lächelte zurück. Ihre Blicke verfingen sich ineinander, wie sie das immer taten, nur dass jetzt jede Unsicherheit der Gewissheit ihrer gegenseitigen Zuneigung gewichen war. Es kostete ihn Mühe, sie nicht in seine Arme zu ziehen und zu küssen, so verlockend waren ihre rosigen, zu einem wissenden Lächeln leicht geöffneten Lippen und auch Samantha fühlte sich mit jeder Faser zu ihm hingezogen.

Es fiel auch ihr schwer, ihn nicht zu berühren und dennoch hielt sie sich zurück und begnügte sich mit einem liebevollen, sehnsüchtigen Blick. Sie durften der Dienerschaft keine Gelegenheit zu Klatsch und Tratsch liefern. Bisher wusste niemand außer Hetta von ihrer Liebe.

Denn was in jener Vollmondnacht so klar und logisch erschienen war, war bei Tageslicht betrachtet, in einer Gesellschaft, in der einzig und allein Geld, Prestige und Beziehungen galten, die sich selbst strenge Regeln und Moralvorstellungen auferlegt hatte, und voller Standesdünkel und Missgunst war, nicht so einfach. Richard hatte als Oberhaupt einer adeligen Familie Verpflichtungen, die über seine Fürsorge für seine Schwester und seine Nichten und den Erhalt des Familienbesitzes hinaus gingen.

Eine Heirat war in seiner Position keine reine Privatsache. Man erwartete von ihm, dass er eine passende Partie machte. Für einen Lord war es statthaft, sich mit einer jungen Dame von Stand oder wenigstens einer reichen Erbin zu verloben. Nicht wenige, allen voran seine Mutter und sein Onkel erwarteten, dass er Lydia Redgrave heiratete. Vermutlich erwartete auch Sir Marcus, dass er um Lydias Hand anhalten würde, schließlich hatte er ihr mehr oder weniger unbeabsichtigt den Hof gemacht, aber Richard würde diese Hoffnungen nicht erfüllen. Er war durchaus stur genug sich über jegliche gesellschaftlichen Erwartungen hinwegzusetzen, aber wenn er Samantha, eine Frau von zweifelhafter Herkunft, ohne Familie und ohne jegliche Mitgift, vom Fleck weg heiratete, würden böse Zungen behaupten, sie wäre seine Mätresse oder Schlimmeres und hätte ihn mit einer List zur Heirat überredet. Solche Gerüchte wurden von den sensationslüsternen, gelangweilten Mitgliedern der Gesellschaft nur zu gerne geglaubt und konnten sich hartnäckig halten. Die ach so feine Gesellschaft war grausam und würde Samantha ihre Ablehnung spüren lassen. Richard wusste das und wollte nicht, dass ihr gemeinsames Leben unter solchen Umständen begann und der Gedanke, jemand könnte schlecht von ihr denken, war unerträglich für ihn, denn Samantha kannte die vornehme Gesellschaft nicht und hatte ihr nichts entgegenzusetzen. Samantha sollte daher langsam und unter Hettas Ägide aus dem Schatten, den ihre untergeordnete Rolle als mittellose Gouvernante warf, hervortreten und zu diesem Zweck mussten sie ihre Liebe geheim halten und neue Lügen über ihre vermeintlich vornehme Herkunft und eine weit entfernt lebenden Familie in Umlauf bringen müssen, aber jede erfundene Geschichte war glaubwürdiger als die Wahrheit.

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt