Bond Street

210 25 30
                                    

London - Spätherbst 1813

Samantha faltete den Brief, der am Morgen für sie in der Post gewesen war, zusammen und legte ihn in das Holzkästchen, das ihr Hetta Shepherd vor Monaten auf dem Jahrmarkt von Ferywood geschenkt hatte und in dem sie ihre Briefe aufbewahrte. Nachdenklich blickte sie sich in ihrem Schlafzimmer um. Es war ein schönes, geschmackvoll ausgestattetes Zimmer mit zart gemusterten hellblauen Tapeten und Vorhängen und einem bequemen Himmelbett aus geschnitztem Kirschholz. Sie fühlte sich hier wohl. An den Verkehr mit ratternden Kutschen, Fuhrwerken, wiehernden Pferden und gelegentlicheren Rufen der Fuhrleuten auf der Straße unter ihrem Fenster hatte sie sich längst gewöhnt. Das Haus befand sich in einer eher ruhigeren Wohnstraße des vornehmen Stadtteils Mayfair und trotzdem vermisste sie noch immer die Ruhe von Ferywood, wo man frühmorgens nichts anderes als Vogelgezwitscher hörte und die Luft nach feuchtem Gras und Wald, und je nach Stand des Windes, nach salziger Meeresluft roch.

Hetta hatte ihr in ihrem neuesten Brief angekündigt, dass sie nach London reisen würde, in Begleitung ihres Bruders und seiner Frau. Denn Richard hatte Lydia nur knapp drei Wochen nach Samanthas Abreise geheiratet. Samantha hatte es unmittelbar danach aus einem von Hettas Briefen erfahren. Ihr wurde noch immer flau, wenn sie sich an ihre Gefühle von damals erinnerte. Die Mitteilung war natürlich keine Überraschung gewesen. Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde, aber es schwarz auf weiß zunächst von Hettas Hand und kurz darauf in der Zeitung zu lesen, hatte sich niederschmetternd endgültig angefühlt.

Samantha freute sich darauf, Hetta wiederzusehen und fürchtete sich im gleichen Maße, Richard zu begegnen. Sie lebte jetzt seit mehreren Monaten in London und hatte ihn seit jener lauen Sommernacht auf der Terrasse von Ferywood Manor nicht mehr gesehen. Selbst, als sie am darauffolgenden Tag mit ihrer Mutter und ihrem Bruder abgereist war, war er ferngeblieben und hatte sich durch Hetta entschuldigen lassen. Als die Kutsche ihres Bruders damals durch das schmiedeeiserne Tor von Ferywood Manor auf die Landstraße in Richtung London abgebogen war, hatte sie in einiger Entfernung einen Reiter auf einem großen schwarzen Pferd gesehen. Pferd und Reiter hatten reglos dagestanden, wie ein Reiterbildnis aus Bronze, mitten auf dem erhöht gelegenen Feld. Samantha hatte gewusst, dass es Richard auf Thunder war, der ihre Abreise aus der Ferne beobachtete. In dem Moment wäre sie am liebsten aus der Kutsche gesprungen und zu ihm gelaufen. Jede Faser ihres Herzens hatte nach ihm geschrien, aber stattdessen hatte sie sich in den gepolsterten Sitz zurückgelehnt und in dem Versuch, sich vor ihrer Mutter und ihrem Bruder nichts anmerken zu lassen, die Augen geschlossen und so getan als wäre sie müde. Überhaupt schien sie seit Monaten zu versuchen, sich nichts anmerken zu lassen. Niemand sollte erfahren, dass Richard und sie einander geliebt hatten. Ihr Liebeskummer ging nur sie selbst etwas an. Davon abgesehen würde es nur für Gerede sorgen, wenn jemand davon erfuhr. Man würde sie für seine abgelegte Geliebte halten und ihre Liebe auf eine kurzlebige Affäre reduzieren. Das wollte sie weder ihm noch sich selbst antun.

Außerdem wollte Samantha verhindern, dass ihre Mutter, die kränklich und sensibel war, sich aufregte. Es genügte schon, dass die Leute dachten, Samantha wäre als Kind von Zigeunern entführt worden und dass so viele Jahre ihrer Vergangenheit im Dunkeln lagen. Diese Geschichte regte die Fantasie an und veranlasste die Leute dazu zu glauben, ihr hafte etwas Verruchtes, Geheimnisvolles an. Auf den ersten gesellschaftlichen Anlässen, die sie besucht hatte, war sie angestarrt worden, als habe sie drei Köpfe. Es war außerordentlich unangenehm gewesen und hatte ihr ohnehin schon angeschlagenes Gemüt noch mehr bedrückt. Es war den Bemühungen und Beziehungen ihres Bruders zu verdanken, dass sie inzwischen von der Gesellschaft akzeptiert wurde und Samantha versuchte seither, sich möglichst unauffällig und angepasst zu verhalten, um nicht wieder ungewollte Aufmerksamkeit  auf sich zu ziehen, auch aufgrund der empfindlichen Gesundheit ihrer Mutter. Samantha hatte es sich zur Aufgabe gemacht, eine vorbildliche Tochter zu sein und ihre Gefühle für sich zu behalten. Ihre Mutter sollte sich nie wieder Sorgen um sie machen müssen. Sie hatte genug durchgemacht. Das, was Samantha in Ferywood nie gelungen war, nämlich sich unterzuordnen, gelang ihr jetzt fast mühelos. Sie wusste selbst nicht genau, warum das so war. Sie funktionierte einfach. Und dennoch fühlte sie sich manchmal wie ferngesteuert. Das Leben in London und seine Regeln denen Frauen sich zu unterwerfen hatten und die strenger waren als auf dem Land, verstärkte dieses Gefühl noch. Nur ihrem jüngeren Bruder gegenüber konnte sie ihr Temperament nicht immer zügeln. Edward war streng mit sich und mit jedem in seiner Umgebung und er und Samantha waren beide vom Wesen her willensstark, so dass es einfach zu Reibereien kommen musste.

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt