Mr Garret war heute nicht zufrieden mit Samantha.
„Wären Sie so freundlich, den Kopf ein wenig zu heben? Halt, nicht so weit. – Ja, so ist es richtig", dirigierte der Maler nicht zum ersten Mal an diesem Vormittag, während er seinen Kopf neigte und Samanthas Position kritisch musterte. „Bitte stellen Sie den rechten Fuß ein wenig vor und wenn Ihre Zofe so freundlich wäre, den Stoff des Kleides zu ordnen?"
Samantha seufzte innerlich, gehorchte aber und beobachtete aus ihrer reglosen Haltung heraus, in der der Maler sie haben wollte, wie Becky der Schleppe ihres grünsamtenem Kleides den gewünschten Faltenwurf verlieh. Becky huschte anschließend lautlos aus dem Zimmer.
„Ausgezeichnet!", rief Mr Garret erfreut lächelnd und verschwand hinter der Staffelei. Nur sein in modischer Unordnung befindlicher Haarschopf war noch zu sehen, als er sich über seine Farbpalette beugte und mit geübten Handgriffen die Farbe mischte, die er für ihre Nase verwenden wollte.
„Ihr Kinn, Miss Hedgeworth!", ermahnte er dann nur wenige Minuten später und Samantha hob den Kopf wieder ein wenig an. „Bitte halten Sie Ihre Hände ruhig, Miss Hedgeworth. Ihr Kopf neigt dazu zu wackeln, wenn Sie so zappeln."
„Entschuldigen Sie", murmelte Samantha und ballte ihre schlanken Finger zu Fäusten und versuchte ihren Kopf still zu halten. Sie hatte heute noch mehr Mühe als sonst, für das Gemälde stillzustehen. Das zufällige Treffen mit Richard gestern im Regen ging ihr nicht aus dem Kopf. Mit ihrer inneren Ruhe war es dahin. Vor allem, weil sie ihn in einem Anflug von geistiger Umnachtung dazu aufgefordert hatte, zu Besuch zu kommen. Ein Teil von ihr wünschte sich ihn wieder zu sehen, aber ein anderer Teil, ein vernünftigerer, wusste, dass es ratsamer wäre ihm so wenig wie möglich zu begegnen.
„Mir scheint, Sie sind nicht ganz bei der Sache", stellte der Maler fest und kam stirnrunzelnd wieder hinter der Staffelei hervor.
„Tut mir leid", murmelte Samantha und korrigierte ihre Position erneut.
Der Maler musterte sie. Vielleicht fragte er sich, was der Grund für ihre Unruhe war, aber er würde nicht danach fragen.
„Sie wirken heute sehr lebendig", stellte er stattdessen fest.
„Wirke ich sonst tot?" Samantha biss sich auf die Zunge. Normalerweise hatte sie sich inzwischen besser im Griff. Sicherlich war der Künstler jetzt eingeschnappt.
„Höchstens – distanzierter", sagte der Maler mit freundlicher Offenheit. Er war wohl an schwierige Kunden gewöhnt. „Diese Lebendigkeit steht Ihnen. Ihr Teint ist rosiger, Ihre Augen glänzen. Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Ihre Augen einen ganz außergewöhnlichen Grünton aufweisen? Es ist nicht leicht, diesen Farbton zu treffen. Es ist die Farbe von Smaragden, aber doch nicht ganz."
Samantha schluckte schwer. Oh ja, das hatte ihr ein gewisser Jemand mehr als einmal gesagt. „Wahrscheinlich brüte ich lediglich eine Erkältung aus."
Der Maler nickte und konzentrierte sich wieder auf seine Farben. Samantha beobachtete eine Weile wie er immer wieder den Blick hob, die Augen zusammenkniff, die Lippen konzentriert schürzte und den Kopf dann wieder senkte, um das Gesehene auf die Leinwand zu übertragen. Samantha musste an ein Erdmännchen denken. Der Gedanke veranlasste sie zu einem undamenhaften Grinsen.
„Wenn Sie vielleicht ein wenig – dezenter lächeln würden, Miss Hedgeworth. Sie ziehen die Nase kraus."
„Aber ich bin doch heute so lebendig."
„Touché!", erwiderte Mr Garret und konnte sich ein Auflachen nicht verkneifen.
Samantha musste ebenfalls lachen. Sie mochte Mr Garret, auch wenn ihr das lange Stillstehen auf die Nerven ging, aber dafür konnte er ja nichts. Sie staunte über seine Geduld mit ihr und wie er jeden Pinselstrich mit Bedacht und Ruhe setzte. Sie wünschte, sie hätte auch nur einen Bruchteil dieser inneren Ausgeglichenheit.
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In Love and War - Geheimnis um Ferywood
FantasyGeister, geheimnisvolle Mächte, eine alte Sage und das Schicksal... Samanthas Leben ist beschaulich und ihre Arbeit im Museum gefällt ihr. Doch dann verirrt sie sich im Wald von Ferywood und findet sich plötzlich im Jahr 1813 wieder. Dort trifft si...