3 Monate später
Samantha strich über die Bahnen schwarzen Seidentafts auf ihrem Schoß und versuchte anschließend, einen ebenfalls schwarzen Faden ins Nadelöhr einzufädeln, aber Tränen trübten ihre Sicht. Also legte sie Nadel und Faden beiseite und tupfte sich mit dem weißen Taschentuch, das längst feucht war, die Augen trocken. Beim zweiten Versuch gelang es ihr sofort, die Nadel einzufädeln. Mit winzigen, geübten Stichen begann sie, die zwei Lagen Stoff zusammenzunähen, die ein Kleid werden sollten, aber sie war fast zu geübt, die Tätigkeit zu einfach, als dass die eintönige Stichelei ihre Gedanken abgelenkt hätte. Die Gedanken an ihre Mutter die vor vier Wochen gestorben war.
Dieser Tod war sinnlos und ungerecht. Samantha verstand nicht, warum ihre Mutter hatte sterben müssen, so kurze Zeit nachdem ihre Familie wieder vereint gewesen war. Es hatte vor drei Monaten mit einer kleinen Erkältung angefangen. Damals auf dem Ball bei Lady Ruthford, bei dem Richard sie in einem dunklen Winkel der Halle heimlich geküsst hatte und Victor Whiteshaw, wieder seine Spielchen gespielt hatte. An jenem Abend war ihre Mutter ohnmächtig geworden und in der Nacht darauf hatte sie Fieber bekommen, aber es war nichts Ernstes gewesen. Der Arzt hatte Tees verschrieben und täglichen Aderlass angeordnet, den Samantha aber energisch verweigert hatte. Eine Woche später war es Mrs Hedgeworth auch ohne Aderlass wieder besser gegangen, aber das Fieber hatte ihre Konstitution geschwächt. Samantha und Edward hatten daher geplant, mit ihr im im Frühjahr, sobald das Wetter beständiger wäre, an die See zu fahren. Die Luft dort hätte ihr sicher gut getan, aber bevor sie diesen Plan hatten in die Tat umsetzen können, war ihre Mutter an einer Lungenentzündung gestorben.
Der bloße Gedanke daran machte Samantha wütend, weil es einfach so unfair war. Prompt stach sie sich mit der Nähnadel in den Finger und ein Tropfen Blut fiel auf den schwarzen Stoff, den sie dabei war zusammenzunähen. „Mist", murmelte sie und steckte sich schnell den verletzten Finger in den Mund. Zum Glück sah man das Blut auf dem schwarzen Stoff kaum. Als der Finger aufgehört hatte, zu bluten, nähte sie weiter, etwas bedachter als zuvor, aber innerlich nicht weniger aufgewühlt.
Wäre sie gläubiger gewesen, hätte sie vielleicht Trost im Glauben an Gott gefunden, aber sie war nicht besonders gläubig, obwohl sie jeden Sonntag pflichtbewusst mit ihrer Familie in die Kirche ging, aber das tat sie bloß, weil es so üblich war. Falls sie je an Gott geglaubt hatte, so zweifelte sie inzwischen daran, dass es ihn wirklich gab. Für viel wahrscheinlicher hielt sie allerdings die Existenz von Fabelwesen wie Feen, die diese Welt schon vor den Menschen bevölkert hatten. Zu vieles aus der uralten Sage von Ferywood hatte sich als wahr herausgestellt, als dass sie hätte zweifeln können. Aber die Feen waren rachsüchtige, gemeine Biester, die sich einen Spaß daraus machten, sie in der Zeit herumzuschubsen, damit sie einen Verlust nach dem anderen erlitt. Falls dies das Schicksal war, das sie laut der Sage zu erfüllen hatte, dann konnte sie gut und gerne darauf verzichten. Zu alldem kam auch noch das Wissen hinzu, das Wissen, das sie nicht gehabt hätte, wenn sie nie durch die Zeit gereist wäre. Das Wissen um Antibiotika und Behandlungsmethoden moderner Krankenhäuser. Das Wissen, dass ihre Mutter in der Zukunft wahrscheinlich nicht gestorben wäre.
Samantha nähte weiter, unterbrach ihre Tätigkeit aber hin und wieder, um mit leerem Blick aus dem Fenster zu starren und musste einmal die Naht wieder auftrennen, weil sie nicht ganz bei der Sache gewesen war. Normalerweise nähte sie gerne, aber diesmal ging es ihr nicht leicht von der Hand. Allerdings hatte sie auch nichts besseres zu tun, als zu nähen. Im Moment zog es sie wenig hinaus auf die Londoner Straßen, die sich jetzt, Ende März schon wieder zu füllen begannen. Die Season stand vor der Tür. Die ersten Veranstaltungen fanden bereits statt. Nur, dass Samantha nichts davon haben würde, denn ihr war es während des Trauerjahrs nicht gestattet, Gesellschaften oder Bälle zu besuchen. Sie durfte zwar Gäste empfangen, aber alles, was auch nur im Entferntesten Spaß machen könnte, war verboten. Nicht, dass ihr momentan der Sinn nach Gesellschaften oder Bällen gestanden hätte, aber sie ahnte, dass das Jahr sehr lang werden würde.
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In Love and War - Geheimnis um Ferywood
FantasyGeister, geheimnisvolle Mächte, eine alte Sage und das Schicksal... Samanthas Leben ist beschaulich und ihre Arbeit im Museum gefällt ihr. Doch dann verirrt sie sich im Wald von Ferywood und findet sich plötzlich im Jahr 1813 wieder. Dort trifft si...