Die Macht der Steine

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Samantha klappte den mit Intarsien verzierten Deckel des Holzkästchens zu und stellte es auf den Kaminsims ihres Zimmers. Sie konnte das Kästchen und dessen Inhalt nicht mitnehmen. Nur zwei von Hettas Briefen, die von belaglosen Alltagsdingen handelten, und ihr gerade deshalb so wertvoll waren, steckte sie in die Tasche ihres Kleides. Um den Hals trug sie eine wertvolle goldene Halskette mit kleinen Diamanten und Perlen, die ihrer verstorbenen Mutter gehört hatte. Mehr würde sie nicht mit sich in die Zukunft nehmen können. Von Hetta hatte sie sich bereits verabschiedet und die Dienerschaft glaubte, sie läge mit Kopfschmerzen im Bett. Es würde zwar noch eine ganze Weile dauern, bis der Vollmond am Himmel stand und das Portal passierbar wäre, aber am Vormittag war die Nachricht von Richard eingetroffen, dass er spätestens zum Dinner in Ferywood eintreffen würde. Samantha machte sich daher zu einem langen Spaziergang auf, um ihm nicht doch noch zu begegnen. Mit Hetta hatte sie vereinbart, dass sie Richard erst morgen alles erzählen würde, wenn Samantha längst fort wäre, zweihundert Jahre entfernt.

Mit Bedacht legte sich Samantha ihren Mantel um die Schultern, denn es würde im Wald kühl sein, und spürte dabei ein ungewohntes Gewicht in der Manteltasche. Sie hatte ganz vergessen, dass sie, ehe sie London verlassen hatte, eine Pistole, die Edward gehörte, eingesteckt hatte. Beckys Schauergeschichten von Wegelagerern und Banditen, die es auf Postkutschen abgesehen hatten, hatten sie dazu veranlasst, die Pistole sicherheitshalber mitzunehmen. Die Reise war dann aber derart ereignislos verlaufen, dass sie die Waffe in der Manteltasche vollkommen vergessen hatte. Weil sie nicht wusste, wohin damit, ließ sie die Pistole, wo sie war, und verließ leise das Zimmer und schlich zur hinteren Treppe, durch die man das Haus unauffällig verlassen konnte und die dem Park am nächsten war. Hetta hatte ihr beim Abschied vorgeschlagen, sie bis zu den Steinen zu begleiten, aber Samantha hatte das Angebot abgelehnt. Sie wollte nicht, dass Hetta im Stockdunkeln zum Haus zurückgehen musste. Außerdem musste sie da sein, wenn Richard eintraf.

Samantha ging also allein auf den vertrauten Wegen durch den Park und versuchte, sich alles einzuprägen. In zweihundert Jahren würde sich der Park sehr verändert haben, weil irgendein Nachfahr von Richard einen bekannten Landschaftsarchitekten engagieren würde, der alles verändern würde, bis auf den Wald, der auch in zweihundert Jahren noch mächtig und undurchdringlich an den Park grenzte. Sie achtete beim Gehen darauf, dass man sie vom Haus aus nicht sehen konnte, denn möglicherweise war Richard zwischenzeitlich eingetroffen. Schließlich folgte sie dem Waldweg zu den Klippen. Dort würde sie sich auf die Felsen setzen können, dem Rauschen des Meeres lauschen, und warten, bis es Zeit wurde. Sie hatte gerade den Wald hinter sich gelassen, als sie in den Hecken am Waldrand plötzlich eine Bewegung wahrnahm. Erschrocken blieb sie stehen, und tastete nervös nach der Pistole in ihrer Manteltasche. Kaum hatten sich ihre Finger um den polierten Griff aus Ebenholz geschlossen, als sie Napoleons vertrautes Bellen vernahm und der Hund aus der Hecke heraus schwanzwedelnd auf sie zulief.

„Oh du verrückter Hund!", rief sie erleichtert aus und streichelte das struppige graue Fell.

Jetzt kämpfte sich auch Joey durch die Hecke. „Napoleon!", rief der Junge energisch. „N'Abend, Miss", wandte er sich dann an Samantha. „Er ist mir abgehauen. Dachte er würde ein Kaninchen oder ein Rebhuhn jagen, aber ich schätze, er hat bloß Sie gehört."

„Du musst mehr mit ihm üben, Joey. Damit er dir nicht immer wegläuft."

„Weiß schon", antwortete Joey etwas betreten. „Seine Lordschaft sagt das auch, aber er hat gut reden. Bei ihm folgt Napoleon aufs Wort."

„Es ist spät und wird bald dunkel. Solltest du nicht langsam nach Hause gehen?" Samantha kraulte Napoleon hinter den Ohren und er leckte ihr zum Dank die Hand.

„Wäre schon längst auf dem Heimweg, wenn Napoleon nicht davongelaufen wäre, Miss", rechtfertigte sich der Junge. Dann pfiff er seinem Hund und schlug sich zurück ins Gebüsch. Napoleon antwortete mit einem kurzen Bellen und folgte dem Jungen auf demselben Weg. Samantha blickte ihnen kurz nach und verspürte leises Bedauern, weil auch dies ein Abschied für immer war.

In Love and War - Geheimnis um FerywoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt