Vor meinen Augen verschwimmen die Worte, je stärker ich mich konzentrieren will. Seit Stunden, so fühlt es sich an, sitze ich hier und versuche, Sätze für die elf Kondolenzkarten zu finden. Bisher ist es bei dem Versuch geblieben. Nichts, was ich notiere, kann auch nur ansatzweise meine Gefühle ausdrücken. Wie soll ich eine Trauerkarte für jemanden verfassen, der noch lebt? Ich weiß ja nicht einmal, was man schreiben könnte, wenn unsere Tribute schon tot wären. Floogs hat mir einen Zettel mit den üblichen Formulierungen gegeben, aber sie sind allesamt hohl. Unehrlich. Auf keinen Fall die richtigen Worte für zwei tote Kinder. Umso länger ich hier sitze, desto mehr wird mir klar, warum sich kaum einer der anderen Mentoren solche Mühe mit den Karten macht.
Frustriert starre ich auf meinen Entwurf. Nein, es klingt einfach nicht ordentlich. Seufzend reiße ich das Papier vom Schreibblock und werfe es in den sich stetig füllenden Mülleimer. Eigentlich will ich die Karten bis zu unserem ersten großen Mentorenmeeting fertig haben. Jetzt muss ich einsehen, dass das unmöglich einzuhalten ist. Mein Blick fällt auf die Uhr.
Ganze fünf Minuten habe ich noch. Und alles, was mir einfällt, ist, dass es mir leidtut. Was nicht gelogen ist. Mindestens einer von ihnen wird sterben und dieser Tod wird auch meine Schuld sein.Tränen treten mir in die Augen und ich wische sie verschämt weg. Ich will stärker sein. Wenn die Visionen von ihren grausamen Toden mich doch nur nicht verfolgen würden! Spätestens seit ich begonnen habe, ihre Trauerkarten zu verfassen, drängen sich die Bilder in immer schnellerer Folge in meine Gedanken. Dabei leben die beiden und sind erst vor einer Stunde hinunter ins Trainingscenter gefahren.
Mit einem tiefen Atemzug lehne ich mich zurück, den Blick an die Decke gerichtet. Eindringlich mustere ich die leichte Maserung über mir. Acht, sieben, sechs ... bewusst öffne ich die zu Fäusten verkrampften Hände. Fünf, vier, drei ... ungeweinte Tränen blinzle ich fort. Zwei, eins, null. Ohne nochmal auf die Karten zu sehen, stehe ich auf und verlasse das Zimmer, Mentoren-Tablet unterm Arm.Im Flur begegne ich Finnick. Mein Herz beschreibt einen kleinen Satz bei dem Anblick seiner zerzausten bronzenen Haare, die ihm so charmant in die Stirn fallen.
Er wirft mir ein zartes Lächeln zu, eine unausgesprochene Liebeserklärung in seinem Blick.
Zu wissen, dass ich ihn hier nicht berühren darf, um uns nicht zu verraten, schmerzt. Seit wir im Kapitol angekommen sind, leben wir durch die kurzen Momente, in denen sich ungesehen unsere Hände streifen oder die Blicke sich unbeobachtet treffen. Diese ständige Nähe, ohne Möglichkeit seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, ist unerträglicher, als die wenigen Tage Siegestour waren. Wenigstens konnten wir uns dort ein paar kostbare Minuten stehlen, wenn der Zug einen Stopp machte. Hier dagegen gibt es kein Entkommen vom Kapitol.Mir sind die unsichtbaren Wanzen in den Wänden, die jeden unserer Schritte verfolgen, bewusst, während ich nach seiner Hand greife. Ein Kribbeln scheint von ihm auf mich überzuspringen. Ich schenke ihm einen Blick, in dem alle Empfindungen für ihn liegen. Finnick lehnt sich vor, bis wir nur Zentimeter weit auseinander sind. Unsere Finger berühren sich noch immer. Sein Atem streift meinen Hals und ich unterdrücke einen Schauer. Im tiefen Grün seiner Augen schimmert Sehnsucht. Schmerzhaft langsam lehne ich mich zurück, den Kopf kaum merklich schüttelnd. Zu viel steht auf dem Spiel.
„Dann wollen wir mal gehen, unseren Tributen helfen, nicht?" Meine Stimme zittert wundersamerweise gar nicht, als ich die Spannung zwischen uns durchbreche.
Er blinzelt langsam und der Ausdruck in seinen Augen verschwindet. Zurück kehrt der Finnick, den das Kapitol kennt, mitsamt dem Lächeln, das Herzen schmelzen lässt. Nur mein Eigenes gefriert bei dem Anblick seiner Maskerade.
Bedauernd lasse ich seine Hand frei. Die Rolle, die er hier spielt, kann ich trotz all der Jahre immer noch nicht leiden.
„Ja, wir sollten los", stimmt er mir zu. Seine Stimme ist rau und ebenso traurig.
Wir treten beide einen Schritt zurück. Leere ersetzt das Kribbeln zwischen uns.
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Meeressturm | Annie Cresta
FanfictionDie Hungerspiele zu gewinnen ist erst der Anfang. Das weiß niemand besser als Annie Cresta, in ganz Panem nur ‚die Verrückte' genannt. Geplagt von den Geistern der Vergangenheit versteckt sie sich an der Seite von Finnick Odair vor der Welt, in der...