35 | Wieder und wieder - Part I

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Mein Herz ist vor Angst verknotet. Gebannt starre ich auf die Zimmertür, hunderte Gedanken im Kopf, wer gleich hereinkommen wird. Keiner davon sieht eine schmale junge Frau voraus, die in ihrem weißen Arztkittel fast seriös aussieht. Bis auf die zartrosa gefärbten Haare, die sie zu einem lockeren Dutt hochgesteckt trägt. Ansonsten verrät nichts ihre Zugehörigkeit zum Kapitol, kein ausfallendes Make-up oder verrückte Kleidung.

Ihr Blick trifft meinen und sie lächelt. „Ah, gut, du bist wach."
Stumm sehe ich sie an, unfähig ihrer Freundlichkeit zu trauen. Schließlich liege ich gefesselt in einem fensterlosen Raum, nachdem sie mir wer-weiß-was in den Arm gejagt haben.
Die junge Ärztin – sie kann nicht viel älter sein als ich – zückt eine kleine Taschenlampe und leuchtet damit ohne Vorwarnung in meine Augen.
„Gut", murmelt sie, „sieht aus, als wäre alles in Ordnung." Sie steckt das Lämpchen wieder weg. „Schön, ich schicke dir gleich Tia herbei, sie wird sich um dich kümmern, solange du bei uns bist. Mir wurde gesagt ihr kennt euch schon?"

Ich versuche, mich daran zu erinnern, warum mir der Name so bekannt vorkommt. Eine Erinnerung will sich aber nicht aus dem Nebel lösen, deshalb zucke ich mit den Schultern. Unbeirrt lächelt die Frau. „Na, sonst wirst du sie gleich kennenlernen" Sie zwinkert mir zu, ehe sie wippenden Schrittes das Zimmer verlässt.
Erleichtert sinke ich auf das Kissen. Erst jetzt spüre ich, dass meine Hände die ganze Zeit über zu Fäusten geballt waren. In der unheimlichen Stille dieses Gefängnisses wünsche ich mir fast Shine zurück, nur um nicht alleine zu sein.

Lange warte ich nicht, denn kurz danach öffnet sich die Tür schon wieder. Meine neue Besucherin ist weit weniger zurückhaltend als die Erste. Von ihrem himmelblauen Haar, über ihre farblich passende Bluse bis hin zu den silbernen Schuhen ist sie gekleidet wie eine Eskorte. Und in dem Moment trifft mich die Erkenntnis. Ich kenne sie tatsächlich!

Die Erinnerung an die „emotionale Beraterin", wie sie sich selber nannte, habe ich in die hinterste Ecke meines Kopfs verbannt. Bis eben. Mit vor Angst klopfendem Herzen starre ich die Frau an, die mich nach dem Sieg in den Hungerspielen jeden Tag mit Fragen zu dem Erlebten folterte, nur um sich dann eifrig Notizen zu den darauffolgenden Zusammenbrüchen zu machen. Ihr liebliches Lächeln passt so gar nicht zu dem, was ich mit ihr verbinde.

„Hallo Annie. Ich hoffe, du hast mich noch nicht vergessen?" Sie lacht albern. „Ich hatte gehofft, dich nicht wiedersehen zu müssen, aber manche unserer Sieger brauchen eben besondere Zuwendung. Falls du dich wirklich nicht erinnerst – Ich bin Tia, deine emotionale Beraterin!" Da ich nichts sage, fährt sie fort. „Du erinnerst dich vielleicht nicht, aber nach Edys Tod hast du einen... Ausfall gehabt. Zu deinem Schutz – und dem der anderen – bist du jetzt hier in unserer Station für Verhaltentherapie."
Es stimmt nicht, was sie sagt. Ich erinnere mich an alles, an Catos Grinsen, Edys Blut und jeden Schrei, der meine Kehle verlassen hat. Trotzdem sage ich es ihr nicht. Es geht sie nichts an, beschließe ich.

„Keine Sorge, wir sind Spezialisten. Präsident Snow höchstpersönlich hat die Order gegeben, dass dir nur die beste Behandlung zuteilwird. Du wirst schon sehen, bald bist du wieder auf den Beinen."
Bei dem Klang von Snows Namen werde ich hellhörig. Wenn sogar er seine Finger im Spiel hat, ist es schlimmer als befürchtet. Meine Gedanken gleiten zu Finnick. Ich hoffe inständig, dass es wenigstens ihm gutgeht.

Mit einem Scharren zieht Tia sich Shines Stuhl heran. Nervös mustere ich sie. Was wird sie mir jetzt antun? Mich unter Drogen setze, bis ich alles vergesse?
„Da die Spiele laufen und du Mentorin bist, haben wir leider nicht allzu viel Zeit. Es tut mir leid, aber die Zeiten der sanften Methode sind vorbei. Wir müssen uns deinen Ängsten stellen." Während sie spricht, zieht sie ein kleines Gerät hervor. Auf einen Knopfdruck hin erwacht die Wand gegenüber meines Betts sprichwörtlich zum Leben. Es stellt sich heraus, dass sie in Wirklichkeit eine geschickt verborgene Leinwand ist. Wo bis eben vermeintlich weißer Putz war, sehe ich jetzt Caesar Flickerman und Claudius Templesmith in ihrem Studio.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt