62 | Die Letzte Welle - Part II

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Wenn man Finnick fragen würde, wie er sich die Rebellion in Distrikt Vier vorstellt, dann gälten seine Gedanken heruntergekommenen Bootsschuppen irgendwo in den Ausläufern der Stadt, wo geheime Treffen in Arbeitspausen abgehalten werden. In seiner Vorstellung träfen sich Fabrikarbeiter und die ärmsten Distriktbewohner in zerrissenen Kleidern, mit einfachen Holzspeeren bewaffnet. Ständig auf der Flucht vor den Friedenswächtern, Zeit und Ort ihrer Aktionen auf das Einwickelpapier der Fische geschrieben, die am Markt verkauft werden. Ein verzweifeltes Unterfangen, allein aus Wut geboren.

Nichts davon trifft zu.
Die Koordinaten auf dem Kompass des toten Rebellen führen ihn sowie Amber und Lana zu einem schicken Stadthaus, nur zwei Querstraßen vom Justizgebäude entfernt. Dreistöckig, mit dunkelblauen Fensterläden und Balkonen, die über das Straßenpflaster ragen. An einer Wäscheleine zwischen dieser und der gegenüberliegenden Fassade hängen bunte Kleider, die kein bisschen geflickt sind, sondern von gewissem Wohlstand zeugen. Hinter den zugezogenen Vorhängen im Erdgeschoss brennt gedimmtes Licht, ansonsten liegt das Haus im Dunklen.

Eine große Muschelschale neben der Tür informiert Besucher darüber, dass hier Familie Pescéano wohnt. Kein Name, der Finnick etwas sagt. Dafür ahnt er, dass hier Kinder zuhause sind, denn auf der perlmutternen Schale sind lauter kleine Fingerabdrücke, die bunte Fische formen.

»Das kann es nicht sein«, spricht Amber aus, was er denkt. »Lass mich noch mal schauen!«
Stumm reicht Finnick ihr den Kompass, ohne den Blick von der Hausfront zu wenden.
Lana, die bei Amber zu Besuch war, als er diese abgeholt hat, und die sich das Abenteuer nicht nehmen lassen will, tritt neben ihn, den Kopf ebenfalls in den Nacken gelegt. »Verdammt, wenn das ihr Haus ist, dann haben sie es echt gut. So schön habe ich in meinem ganzen Leben nicht gewohnt.«

An ihrer Seite flucht Amber leise und schüttelt das kleine Navigationsgerät, das eigentlich für die Hochseenavigation gemacht ist. »Komm schon, Mistding!«
Finnick wirft ihr einen warnenden Blick zu. »Nicht so laut.«
»Sag das dem Scheißgerät«, zischt Amber zurück. »Es muss irgendeine Macke weghaben. Da geht gar nichts mehr, immer wenn ich die Koordinaten eingebe, lande ich hier. Als wenn das Teil wirklich nur auf dem Meer funktioniert, das ist doch lächerlich!«

»Gib mal her.«
Mit einem harten Schlag pfeffert Amber das Teil vor Finnicks Brust. Sie hat recht – das Display zeigt ihnen unmissverständlich an, dass sie ihre Koordinaten gefunden haben. Er gibt sie noch einmal ein – was ihm einen bitterbösen Seitenblick von Amber einbringt –, aber nichts ändert sich.

»Na schön, gehen wir doch mal davon aus, dass wir hier richtig sind«, merkt Lana mit einem Schulterzucken an. »Warum auch nicht? Wir sollten es einfach hinter uns bringen.«
Bevor Finnick oder Amber sie aufhalten können, betätigt sie den Klingelknopf unterhalb der Muschelschale. Das helle Glockenläuten hören sie selbst durch die schwere Holztür, ebenso wie die näherkommenden Schritte.

Amber stöhnt leise und zieht ihre Kapuze tiefer in die Stirn, dann geht die Tür auch schon einen Spaltbreit auf. Eine zierliche Frau lugt hindurch, schätzungsweise in Floogs Alter. Ihr dunkles Lockenhaar wird von einem bunten Tuch zusammengehalten und trotz der späten Uhrzeit trägt sie noch eines der vornehmen Kleider, die auch auf der Wäscheleine hängen. Als hätte sie Besuch erwartet.
Irgendetwas an dem Bild kommt Finnick vage bekannt vor. Hat er sie schon einmal gesehen – vielleicht sogar am Hafen, unter den vermummten Rebellen? Er kann es nicht sagen.

Bei seinem Anblick zieht die Frau misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Ja? Kann ich Ihnen helfen?«
Finnick nimmt einen tiefen Atemzug und tritt vor, sodass das Licht aus dem Hausflur auf ihn fällt. Er schiebt die Kapuze ein Stück zurück, bemüht um ein ehrliches Lächeln – nicht das Kameralächeln, das man von ihm kennt.
Die Augen der Frau weiten sich, doch ihr Mund wird im selben Moment zu einem schmalen Strich. Nicht ein Laut des Erkennens kommt über ihre Lippen. Nicht einmal dann, als Amber sich mit verschränkten Armen neben ihn stellt.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt