Hunderte Meter unter der Oberfläche wird offenbar, dass das Kapitol sich jeglichen überflüssigen Prunks entledigt hat. Als die Fahrstuhltüren aufgleiten, sieht Finnick sich dem blanken Herzen der Hauptstadt gegenüber, kalt und abweisend. Links und rechts vom Aufzug erstrecken sich schier unendliche Gänge, die so karg anmuten, dass es in ihm das Gefühl erweckt, alle Farbe wäre aus der Welt gewichen. Glänzender weißer Fliesenboden und Wände, beleuchtet von nackten Leuchtstoffröhren, die auch den letzten Schatten gnadenlos ausleuchten. An der Decke Kameras, die zweifellos jeden Schritt aufzeichnen. Feindschaft gegenüber dem Leben durchdringt das Kellergewölbe.
Nur Dr. Gaia Gaul in ihrem weißen Kleid passt an diesen unwirtlichen Ort. Bis auf ihre zart pinken Haare, der einzige bunte Fleck hier unten. „Stehen bleiben", befiehlt sie in einem scharfen Ton, der unweigerlich sogar Finnick imponiert. Sie verschwindet hinter einer der zahlreichen gleichförmigen Türen dem Fahrstuhl gegenüber. Lange dauert es nicht, ehe sie wieder auftaucht, die klappernden Absätze gegen lautlose Gummischuhe getauscht und einen Kittel über dem Abendkleid. „Willkommen in meinem Reich, Mr. Odair." Sie breitet ihre Arme zu beiden Seiten aus, als gäbe es etwas zu präsentieren, außer weißer Einöde.
„Das ist also ihr Labor, nehme ich an?"
Dr. Gaul nickt. „Die Dovecote-Einrichtung zur experimentellen Mutationsforschung, um genau zu sein. Nicht alleine mein Labor, aber der Dreh- und Angelpunkt meiner Forschung." Die Spuren der ängstlichen Frau, die aus dem Appartement von Distrikt vier geflohen ist, sind fortgewischt.Finnick strafft die Schultern. Snow heißt seinen Besuch an diesem Ort sicherlich nicht gut, das kann er sich nicht vorstellen. Nur, wenn hier unten eine Falle auf ihn wartet. Das wiederum können sie sich allerdings nicht erlauben, nicht bei ihm. „Also, warum bringen Sie mich hierher? Normalerweise behält das Kapitol seine Geheimnisse für sich. Und bei allem Aufheben, was man um uns Sieger macht, weiß ich doch um meinen Platz."
„Folgen Sie mir, Mr. Odair", erwidert die junge Forscherin bestimmt. „Es gibt eine Menge über uns, das sie nicht einmal ahnen – ungefähr so viel, wie es verschlossene Türen hier unten gibt. Machen Sie sich keine Illusionen, eine geöffnete Tür ist nicht mehr als ein einzelner Tropfen im Ozean der Geheimnisse. Mein Risiko, Sie nach hier unten zu bringen, nicht das des Präsidenten. Vielleicht können Sie sich das nicht vorstellen, doch auch sein Einfluss kennt Grenzen."
Ihr Lächeln ist ein Musterbeispiel fröhlicher Unschuld, das ein kühles Prickeln über Finnicks Haut jagt. Er sieht zwei Möglichkeiten: Entweder, er hat Gaia Gauls Gefährlichkeit gehörig unterschätzt oder aber Gaia Gaul überschätzt sich selber gnadenlos. Schwer zu sagen, was ihm lieber ist.
Die zierliche Forscherin führt ihn den Gang zur Linken hinab. Außer ihrer beider Schritte ist kein Geräusch zu vernehmen. Türen ziehen vorbei und Finnick kann nicht anders, als sich vorzustellen, welch schreckliche Experimente hinter jeder davon lauern. Eine Regierung, die Menschen die Zungen herausschneidet, um stumme Sklaven aus ihnen zu formen; die Kinder auf Leben und Tod kämpfen lässt, der ist alles zuzutrauen. Die schiere Größe des Labors mit den sich immer weiter verästelnden Gängen bringt Finnicks Kopf zum Schwirren. Wie ein Spinnennetz breitet das Labyrinth sich unter der Stadt aus, den Präsidentenpalast im Mittelpunkt. Eine perfekte Todesfalle für die Feinde des Kapitols. Wer hier weggesperrt wird, der ist der Gnade von Snow und seinen Schergen ausgeliefert.
Er verkneift sich jedes Wort gegenüber seiner Begleiterin. Wer keine verfänglichen Fragen stellt, dessen Stimme zittert auch nicht verräterisch. Besser, Dr. Gaul ahnt nicht, wie tief sein Schock angesichts des gewaltigen Kellergewölbes reicht. Das hier ist seine Chance, eine einmalige Chance, etwas über die verborgene Forschung des Kapitols zu erfahren. Dr. Gaul weiß es vielleicht nicht, aber alleine die Tatsache, wie die Gänge angelegt sind oder der Fakt, dass es Zugangschips gibt, könnte Distrikt 13 eines Tages helfen. Für die Rebellion, versucht Finnick, sich zu beruhigen, für Annie. Die Worte sind längst zu seinem Mantra geworden, Besänftigung und Wahn zugleich.
DU LIEST GERADE
Meeressturm | Annie Cresta
FanfictionDie Hungerspiele zu gewinnen ist erst der Anfang. Das weiß niemand besser als Annie Cresta, in ganz Panem nur ‚die Verrückte' genannt. Geplagt von den Geistern der Vergangenheit versteckt sie sich an der Seite von Finnick Odair vor der Welt, in der...