06 | Von Salz und Muscheln - Part I

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Eine seichte Brise weht über die anwesende Trauergesellschaft. In der Ferne hört man das Meer rauschen und über uns kreischen die Möwen. Die Flagge Panems wellt sich im Wind, um jedem Anwesenden das herrschaftliche Siegel unseres Landes zu präsentieren.

Wir stehen auf einer weiten Salzwiese am Rande des Distrikts, an einer Klippe über dem Meer. Vor uns steht Bürgermeister Southshore auf einem hölzernen Podest, direkt über einem frisch ausgehobenen Grab. Mit weit ausgebreiteten Armen spricht er zu den Anwesenden – uns Siegern, der Eskorte aus dem Kapitol und allen übrigen Trauernden aus dem Distrikt.
Wir Sieger stehen eng beieinander, endlich wieder vereint – wenn auch eine mehr in diesem Jahr. Das hellrote Haar von Riven schimmert unter ihrer goldenen Krone.
Als Einzige von uns steht sie oben auf der Bühne neben dem Bürgermeister. Ihr Gesicht wirkt leer, auch wenn ihre Augen gerötet sind. Neben mir steht Mags, ihre runzlige Hand fest in meiner. Doch auch Finnicks Nähe spüre ich, ruhig wie ein Fels in der Brandung hinter mir.

„Eric hat mit seinem Mut bewiesen, dass wir aus Distrikt vier im wahrsten Sinne des Wortes mit allen Wassern gewaschen sind. Sein Einsatz für unseren Distrikt wird immer unvergessen bleiben. Seine Tapferkeit möge zukünftigen Tributen eine Lehre sein. Die Geschichte seines ehrenhaften Kampfes wird auch noch die, die nach ihm kommen inspirieren, in der Arena zu einem Helden zu werden, um Ruhm und Ehre für seinen Distrikt zu erringen. Heute wollen wir seinem Heldenmut gedenken und ihm größte Ehre zuteil werden lassen."

Leises Schluchzen füllt die Stille. Neben dem Grab steht Erics Familie an seinem Sarg, in ihre besten Klamotten gekleidet. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater sind schmächtige Fabrikarbeiter. Selbst ihre beste Kleidung ist mit geflickten Löchern versehen. Ein älteres Mädchen, seine Schwester, steht mit versteinertem Gesicht neben ihnen, während die Eltern einander weinend in den Armen halten.
Southshore blickt sie nicht einmal an, als er seine Rede beendet.
„Auf Eric Keenway, Tribut der 73. alljährlichen Hungerspiele! Möge die See seine Seele hüten!"

Murmelnd wiederholen wir Anwesenden die letzten Worte.
Vier Friedenswächter ergreifen den Sarg, dessen polierte Oberfläche in der Sonne glänzt. Die festliche Flagge Panems ist darüber gespannt und darauf wiederum ist eine einzige weiße Rose festgesteckt , wie eine letzte Erinnerung daran, wer seinen Tod zu verantworten hat. Sie lassen seinen Sarg hinab in das Erdloch, während im Hintergrund die Hymne gespielt wird. 

In der Tat ist es so etwas wie eine Ehre, auf dem Friedhof beerdigt zu werden. Ein solches Begräbnis kann sich nicht jede Familie leisten, vermutlich auch Erics eigentlich nicht. Nur die Wohlhabendsten aus Distrikt vier können sich einen Sarg und Grabstein leisten. Die meisten werden verbrannt und anschließend auf dem Meer verstreut, ohne eine einzige Erinnerung an ihr Leben zu hinterlassen. Nur die gefallenen Tribute und verstorbene Sieger werden noch hier beerdigt – großzügig gesponsert von dem Kapitol. Nicht einmal im Tod lässt das Kapitol uns vergessen, wer die Macht hat.

Sobald der Sarg im Grab verschwunden ist, schreitet Erics Familie vorwärts. Jeder von ihnen streut eine Handvoll Salz herab in sein Grab.
„V-vielen Dank, Bürgermeister Southshore", sagt die Mutter unter Tränen zum Podest gewandt.
„Ich bin mir sicher unser Eric ... er hätte sich bestimmt geehrt gefühlt."
Immer mehr Tränen strömen über ihr Gesicht als sie sich an ihren Mann klammert.
„Er hat so große Träume gehabt", fährt sie fort, „e-er wollte ..."
Doch ihre Worte versiegen, als die Tränen erneut die Überhand gewinnen. Stattdessen tritt die Schwester vor, ihre Miene immer noch unbeweglich. Kaum merklich verändern die Friedenswächter ihre Haltung.

„Was meine Mutter sagen will", erklärt sie mit erstaunlich fester Stimme, „ist, dass Eric mehr war als nur ein mutiger Tribut. Er war ein herausragender Koch und-"
„Ah ja, meine Liebe, selbstverständlich war Eric ein wunderbarer Junge", unterbricht der Bürgermeister sie, „und ich bin mir sicher, dass ihr sein Andenken bewahren werdet. Seine Geschichte wird man sich noch in Jahren zur Inspiration erzählen. Leider neigt unsere Feier sich dem Ende zu und wir haben, fürchte ich, keine Familienrede vorgesehen. Aber wir werden uns an seine Geschichte erinnern."
Erics Mutter legt ihrer Tochter eine Hand auf den Arm und diese schluckt ihre Worte hinunter. Mit gesenktem Kopf sagt sie:
„Natürlich, Bürgermeister. Vielen Dank für ihre Worte."

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt