10 | Eiseskälte - Part I

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Mags hatte einen Schlaganfall. Die Worte hallen dröhnend in meinen Gedanken wieder. Ich fühle mich, als hätte ich meinen Körper verlassen, seltsam leicht und kalt. Bestimmt schlägt mein Herz nicht mehr. Habe ich jetzt auch einen Anfall? Werde ich ebenfalls sterben?
Ich sehe, wie Amber sich umdreht, Finnick am Arm gepackt. Sie sagt etwas, doch ihre Worte erreichen mich nicht. Eine Hand schließt sich um mein Handgelenk und ich werde vorwärts gezogen.
Ungelenk stolpere ich über meine eigenen Füße. Das warme Gefühl, welches mich bis eben noch erfüllt hat, fließt aus meiner Brust, durch meine Arme in die Fingerspitzen und verlässt mich. Es ist, als wäre ich in Eiswasser getaucht. Aus dem Nichts taucht eine Erinnerung auf.

Ich bin acht Jahre alt und das erste Mal bei schlechtem Wetter mit meinem Vater zur See. Es ist Herbst und ein gewaltiger Sturm zieht schnell herauf. Unser kleines Boot schwankt auf den Wellen, die immer größer werden. Ich klammere mich mit eisigen Fingern fest an den Mast, in der Überzeugung, dass ich sterben werde. Mein Vater kämpft noch mit dem Steuer, als eine Welle sich über dem Boot auftürmt und uns mit einem Donnern unter sich begräbt. Eisiges Wasser drängt von allen Seiten auf mich ein. Jegliches Gefühl für meinen Körper verschwindet. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Sind meine Arme noch um den Mast geschlungen? Ich kann es nicht sagen. Alles was ich fühle ist Eiseskälte und Todesangst, die meine Gedanken lähmt. 

Plötzlich wird unser Boot aus dem Wellental empor geschleudert und wir reiten auf einer gewaltigen Wellenkrone. Meine Arme sind tatsächlich noch um den Mast geschlungen, auch wenn ich nicht mehr spüre, wie ich mich festhalte. Ehe ich mich versehe rasen wir bereits wieder herab. Eine neue Woge eisigen Wassers begräbt uns. Mein Denken ist ausgeschaltet. Die Wange an den Mast gepresst, die Augen weit aufgerissen, ergebe ich mich der Macht des Meeres. Knarzend reitet unser Boot die Wellen, stürzt in die tiefsten Täler nur, um dann wieder empor zu steigen. Mir erscheint es wie ein Wunder, doch plötzlich sehe ich einen Landstreifen vor uns, der sich immer weiter nähert. Distrikt vier erhebt sich vor uns. Je näher wir dem Land kommen desto kleiner werden die Wellen. Trotzdem schaffe ich es erst wieder, meine Arme von dem Mast zu lösen, als wir in den Hafen eingelaufen sind und mein Vater schützend seine Arme um mich schlingt.

Das Gefühl, das jetzt meinen Körper durchströmt, ist ein ähnliches. Ich fühle mich, als würde Welle um Welle auf mich einstürzen.
Blindlinks stolpere ich hinter Finnick und Amber her über breite Kopfsteinpflaster-Straßen. Erst als sich das Krankenhaus, ein flaches Gebäude aus hellgelbem Beton, vor uns erhebt, erkenne ich, wo wir hingehen.

Vor dem Eingang sind bunt blühende Büsche eingegraben, doch auch sie können nicht über den tristen Eindruck hinweg täuschen. Das Krankenhaus ist ein böser Ort. Ich weiß, dass in den weißen Fluren mit dem stechenden Desinfektionsmittelgeruch nur noch mehr längst vergrabene Erinnerungen ruhen. Und schlimmer noch, Visionen von dem, was ich nie erlebt habe.
Schon sehe ich mich am Krankenbett meines Vaters stehen, sein Gesicht so weiß wie die Laken und der Atem flach. Mir gegenüber steht Präsident Snow, die Hände wie zum Gebet gefaltet. In seinem makellosen weißen Anzug sieht er aus wie ein zu fein angezogener Arzt. Seine Schlangenaugen richten sich auf mich. Ein Kribbeln gleitet meine Wirbelsäule herab.

„Papa", flüstere ich hilflos. Meine Hand sucht seine Hand, doch sie ist kalt wie das Eiswasser vor so vielen Jahren. Der Anblick des Krankenhauses verschwimmt langsam. Amber hält nicht inne, um auf uns zu warten, doch Finnick dreht sich besorgt zu mir um.
Ich sehe die Angst in seinem Blick. Diesmal kann auch er mir keinen Trost spenden realisiere ich. Er ist genau so hilflos wie ich.
Seine Hand gleitet wieder in meine, obwohl wir uns mitten in Distrikt vier befinden, wo uns jeder sehen kann. Aber unter diesen Umständen ist es wahrscheinlich in Ordnung. Gemeinsam betreten wir den Empfangsraum des Krankenhauses. Gerüche von Leid und Krankheit drängen auf mich ein. Am liebsten würde ich mich übergeben, doch zum Glück gehorcht mir mein Körper auch in dieser Hinsicht nicht.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt