Wenige Stunden später liegt das Kapitol in tiefem Schlaf, als Finnick in das Trainingscenter zurückkehrt. Er sieht Annie sofort, kaum, dass er im Halbdunkel durch die Türen des Distrikt-Appartements schlüpft.
Sie sitzt mit angezogenen Knien an dem großen Fenster im Essbereich, das einen prächtigen Ausblick auf den Korso und die glänzenden Häuser in der Ferne eröffnet. Ihre langen dunklen Haare fallen ihr vor das Gesicht.Er steht nur da und starrt sie an, unsicher, ob er sich ihre Rückkehr nicht bloß eingebildet hat. Aber nein, da sitzt sie wirklich, in Fleisch und Blut. Sein Herz flattert vor Aufregung, drängt ihn, sie in seine Arme zu reißen. Das ist alles, was er will. Doch der letzte Rest verdammter Vernunft hält ihn zurück. Tu es nicht, wispert sie in seinem Kopf, denk an Snow.
Hätte er ihm doch nur die Gartenschere ins Herz gerammt. Nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal wünscht Finnick sich, ihm ein Ende bereitet zu haben. Seine Hände zittern und er ballt sie hilflos zu Fäusten.Langsam dreht Annie ihr Gesicht zu ihm. Sie sieht ihn an, aus diesen meerblau-grünen Augen, in denen er ertrinken könnte. Ihr Ausdruck ist unergründlich. Abneigung? Enttäuschung? Er wartet darauf, dass sie etwas sagt – und wenn es nur Vorwürfe sind. Hauptsache, er hört ihre Stimme. Dann kann er sich sicher sein, dass sie zurück ist.
Genau wie er schweigt sie jedoch bloß. Ihre Hände zittern wie seine und sie drückt sie an ihre Brust. Es kommt ihm vor wie Stunden, die sie einander einfach ansehen, voller Angst und Verlangen.Endlich traut Finnick sich, ein paar Schritte in den Raum zu gehen, aber auf halber Strecke verlässt ihn der Mut. Nicht hier, schreit wieder die Vernunft, nicht vor den verborgenen Augen des Kapitols!
Annies Lippen zittern, als sie schließlich spricht. Sie sagt nur ein Wort:
„Finnick."
Eine Stimme wie Muschelscherben, tausendfach gebrochen, rau und doch vertraut. Geliebt. Wärme steigt in ihm auf. Seine Sicht verschwimmt. Die Tränen bahnen sich unaufhaltsam ihren Weg und dann bricht schlussendlich die Vernunft.Er stürzt auf sie zu und presst sie an sich, bis er ihren wilden Herzschlag an seiner Brust spürt. Niemals wieder will er sie gehen lassen. Finnicks Tränen fallen auf ihre Wangen und vermischen sich mit ihren eigenen.
„Annie", versucht er zu sagen, aber seine Stimme versagt und er beschließt, dass es warten kann. Jetzt reicht es, sie einfach nur in den Armen zu halten. Er vergisst sogar, dass der Geruch von Titania noch an ihm klebt. Kameras, Snow, sie alle sind in diesem Moment egal.Nach einer viel zu kurzen Ewigkeit findet ausgerechnet Annie als erste ihre heisere Stimme wieder. „Ich bin so froh, dass du hier bist." Sie blinzelt ihn aus tränenverschleierten Augen an. Eine Träne tropft von ihrer Nasenspitze, was ihr ein kleines zersplittertes Kichern entringt.
Alle Anspannung und Angst von Finnick entlädt sich bei dem Anblick. Der Moment ist so absurd, so eigenartig und gerade deshalb kann er das Lachen nicht unterdrücken. Überglücklich und erfüllt von Leichtigkeit umfasst er ihr Gesicht. Ihr Kuss ist salzig wie das Meer.
Es gibt so vieles, das er ihr sagen will, doch als er sie ansieht, verschwinden die Worte schlicht aus seinem Kopf. Er lacht und weint zugleich und dann küsst er sie einfach nochmal. Und nochmal.
„Ich liebe dich", wispert er auf ihre Lippen. Soll Snow es doch mitbekommen. Seine Beteuerungen werden dieses Appartement nie verlassen. Das Kapitol wird nichts außer falscher Versprechungen zu hören bekommen. Nur hier drinnen, alleine zwischen ihm und Annie, kann er keine Lüge mehr leben.Er streicht eine Träne von ihrer Wange. „Es tut mir so leid", setzt er erneut an, aber sie schüttelt den Kopf.
„Entschuldige dich nicht." Sie wischt sich die Augen. „Du hattest keine Wahl."
„Und trotzdem wollte ich dich schützen." Er lockert seine Umarmung etwas, um ihnen Luft zum Atem zu geben.
Erst jetzt kommt Finnick dazu, sie richtig zu betrachten. Gestern Abend hatte das Vorbereitungsteam sich jegliche Mühe gegeben, sie herauszuputzen, mit allem, was die Welt des Make-ups bietet. Im frischen Morgenlicht ist nichts davon übrig und stattdessen sieht er die tiefen Schatten unter ihren Augen – und die roten Ringe an ihren Schläfen. Eine ganz andere Angst brodelt in ihm hoch, begleitet von hunderten neuer Sorgen.
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Meeressturm | Annie Cresta
FanfictionDie Hungerspiele zu gewinnen ist erst der Anfang. Das weiß niemand besser als Annie Cresta, in ganz Panem nur ‚die Verrückte' genannt. Geplagt von den Geistern der Vergangenheit versteckt sie sich an der Seite von Finnick Odair vor der Welt, in der...