60 | Hochverrat - Part II

115 18 13
                                    

Ich habe Davids Vater nicht mehr gesehen, seit er sich vor den siebzigsten Hungerspielen von mir verabschiedet hat. Bei meiner Rückkehr in den Distrikt war er nicht anwesend, genauso wenig wie bei der Siegesfeier. In all den Jahren habe ich ihn nicht einmal auf dem Friedhof am Muschelbaum getroffen oder ihn auch nur in der Stadt bemerkt. Als hätte er nie existiert, außer in meiner Einbildung.

Ungläubig starre ich die Liste an, die mich informiert, dass er in drei Tagen sterben soll. Man hat ihn für Hochverrat zum Tode verurteilt. Was immer das genau heißen mag. Die Friedenswächter werfen in den letzten Wochen nur so um sich mit diesem Begriff, aber es gibt einen ganzen Katalog an Taten, die zu dieser Verurteilung führen.

Die Zunge klebt mir am Gaumen und entfernt schmecke ich Gummi. Meine Handgelenke kribbeln, sodass ich mit den Fingern darüber rubble, bis die Haut ganz gerötet ist und Isla mich von dem Aushang fortzieht. Ich bin Davids Vater nichts schuldig, immerhin hat seine Familie mir die alleinige Verantwortung am Tod ihres Sohnes gegeben. Nicht einmal haben sie mich besucht oder gefragt, was Davids Schicksal mit mir – seiner ehemaligen Verlobten – angerichtet hat.

Am Tag nach der Siegesfeier haben sie einen Boten mit meinen privaten Sachen aus unserem alten Haus ins Dorf der Sieger geschickt, zusammen mit einem Brief, der unmissverständlich ausgedrückt hat, mich nie wiedersehen zu wollen. Dass mein Gewinn nicht nur David, sondern auch Papa und den kleinen Cyle das Leben gekostet hat, haben sie vollkommen vergessen – oder verdrängt. Alles, was sie in mir sehen, ist die verrückte Siegerin der siebzigsten Hungerspiele, die ihre geliebten Menschen in den Tod gestürzt hat, anstatt selber in den Spielen zu sterben.

Der Verrat sitzt tief und trotzdem fühle ich mich betroffen, nun, da Davids Vater hingerichtet werden soll. Ich kenne den Mann seit frühester Kindheit. Er hat uns vor bestimmt fünfzehn Jahren das Krabbenpulen beigebracht. Wenn alles anders gelaufen wäre, hätte er mein Schwiegervater sein können.

Den ganzen Einkauf über trage ich mich mit dem Gedanken, der Urteilsvollstreckung beizuwohnen. Oder noch besser, wie ich sie verhindern könnte. Aber das ist natürlich utopisch. Selbst mit meinem Status der Siegerin kann ich nicht einfach ins Rathaus spazieren und erwarten, dass man mir nur eine Sekunde zuhören wird. Vor allem, da ich doch ‚die Verrückte' bin.

Erst als sich zwei Friedenswächter in der Schlange des Krebshändlers vordrängeln und Isla die beiden Rekruten wortgewaltig zu Krill macht, fällt mir wieder ein, dass sie ja mit einem Kommandanten der Truppe bekannt ist. Oder eher verwandt. Ihre ältere Schwester hat als eine der wenigen einen Soldaten aus Distrikt Zwei geheiratet, der hier stationiert ist und inzwischen zu einer führenden Position befördert wurde. Diese Verbindungen sind selten – und mittlerweile ist die Eheschließung zwischen Angehörigen verschiedener Distrikte vonseiten des Kapitols verboten. Aber an den alten Verhältnissen hat niemand gerüttelt.

In der Vergangenheit hat Isla diesen Vorteil immer dann ausgenutzt, wenn sie mich zu offiziellen Veranstaltungen begleitet hat und man sie abweisen wollte. So wie vorletztes Jahr beim Finale der Hungerspiele. Oder bei der Versorgung der Kinderheime, die sie organisiert. Da sehen die Friedenswächter nicht so genau hin, wenn Lebensmittelreste aus den Fabriken verschwinden. Vielleicht kann ihr Einfluss mir helfen, Wiedergutmachung für Snows Mord an David zu leisten?

Isla ist reichlich verwundert, als ich sie auf dem Heimweg danach frage, ob wir etwas bezüglich der Hinrichtung unternehmen können. Sie verspricht nichts, aber das erwarte ich gar nicht. Mir ist klar, dass das Kapitol nicht die Bestrafung aussetzen wird. Wenn überhaupt, hoffe ich, dass sie es vielleicht in eine mildere Strafe umwandeln, im Gefängnis oder Arbeitslager ... oder mich wenigstens zu Davids Vater lassen.

Nach unserem Einkauf sehe ich jedenfalls, wie Isla in ihrer besten Feiertagskleidung zurück in Richtung Stadt spaziert. Sie besucht ihre Schwester nur selten, da diese in der Garnison wohnt und jeder Besuch mehrere Sicherheitskontrollen bedeutet. Alleine schon deshalb bin ich ihr unendlich dankbar, dass sie für mich – und diesen egoistischen Wunsch – so viel auf sich nimmt.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt