14 | Keine von uns - Part II

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Ohne ein Geräusch gleitet der Zug wenige Tage später in die herannahende Nacht. Irgendwo am Ende der Strecke liegt Distrikt zwei, welchen sie planmäßig am nächsten Morgen erreichen sollen. Noch fahren sie durch die Ödnis irgendwo im Niemandsland zwischen den Distrikten. Ruinen längst vergangener Städte ragen dunkel am Horizont auf.
Es kommt Finnick so vor, als seien die letzten Tage wie im Flug vergangen. Nur noch zwei Distrikte und schon wird die Siegestour ihren Abschluss in einem rauschenden Fest im Kapitol finden. Jeder Tag der Tour ist so vollgepackt gewesen mit Programm, dass er kaum Zeit hatte sich um die Abschlussfeier im Präsidentenpalast Sorgen zu machen. Nur die ruhigen Abendstunden im Zug, so wie jetzt, lassen Raum für Gedanken und damit Sorgen. 

Seit Distrikt zwölf ist die Tour nach Plan gelaufen. Riven hielt ihre vorbereitete Standardrede und fügte nur dort etwas ein, wo sie mit dem Tribut verbündet gewesen ist. Als klassischer Karriero sind Distrikt eins und zwei ihre Verbündeten gewesen, die einzige Ausnahme bildete eine talentierte Bogenschützin aus Distrikt acht.
Für diese fügte sie einige sorgsam ausgesuchte Worte an, mit denen sie ihren Mut lobte und sich für ihren Einsatz in der Arena bedankte, aber den ausdruckslosen Gesichtern ihrer Eltern nach ist das nur ein schwacher Trost gewesen. Anschließend noch das Festessen – dann waren sie auch schon wieder weg.

Er kann nicht anders, als die kurze Zeit in manch einem Distrikt zu bedauern. Bei den Feiern blieb jedes Mal kaum genug Zeit, um mit den anderen Siegern ausführlich zu reden.
Insbesondere Johanna war bei dem Fest in Distrikt sieben eher verschlossen gewesen.
Aus Erfahrung weiß Finnick, dass sie die Siegestour verabscheut. Dann zwingen ihre Stylisten sie wieder in verhasste Kleider und bestimmen sie dazu, gute Manieren an den Tag zu legen. Zumindest versuchen sie es. Johanna hat sich noch nie gerne Vorschriften machen lassen.

Da das Kapitol jede einzelne Minute der Festlichkeiten zugegen war, war es ausgeschlossen über die geheimen Pläne der Untergrundbewegung zu sprechen. Mehr als ein oberflächliches Gespräch, bei einer Führung durch die Wälder des Distrikts, war nicht möglich.
Zumindest konnte Finnick dem entnehmen, dass es Distrikt sieben auch nicht schlechter erging als in der Vergangenheit. Ebenso war es in Distrikt drei ergangen.
Immerhin hat er die anderen über Mags Gesundheitszustand in Kenntnis setzen können.

In Distrikt elf hingegen war die Stimmung spürbar angespannt. Ausgemergelte Gesichter mit hohlen Augen hatten von überall her auf Riven gestarrt, die ihre Rede hielt, der Ärger über diese Scharade sichtlich unter der Oberfläche brodelnd.
Selbst Annie, die nichts von den Geschehnissen in Distrikt elf weiß, schien die angespannte Atmosphäre bemerkt zu haben. Da Riven keinen der Tribute näher gekannt hat, war es zumindest keine besonders emotionale Feier gewesen. Den Mienen Einiger in Distrikt elf nach ist das aber nur ein weiterer Tropfen auf den heißen Stein. Finnick kann es ihnen nicht verübeln.

Gedankenversunken schweift sein Blick über den letzten Streifen Abendrot am Himmel. Morgen also Distrikt zwei. Damit auch der erste Distrikt, in dem ihre Ankunft wirklich gefeiert werden wird. Selbst wenn ihre Tribute tot sind, werden sie die Siegerin gebührend feiern wollen, zumal sie Teil der Karrieros war. Nach der bedrückenden Atmosphäre in den anderen Distrikten werden die letzten zwei Distrikte immerhin eine Erleichterung bedeuten. Himmel weiß, er hat etwas Entspannung nötig.

Nicht nur, dass die Unruhe im Land ihn beschäftigt, auch die Sorge um Annie hält ihn fest im Griff. Er hat sie, naiv wie er war, wirklich sicher geglaubt vor dem Einfluss des Kapitols. Doch eine Nachricht von Präsident Snow reicht aus und schon wird Annie zurück in das Rampenlicht gezerrt. Mentorin. Irgendwie, und er weiß noch nicht wie, muss er verhindern, dass dies wahr wird. In seinen Fingern dreht er das Stück schweren Briefpapiers, das mit Annies Blumenlieferung direkt von Snow gekommen ist.
Obwohl der Brief schon Wochen alt ist, riecht er immer noch schwach nach Rosen. Seit Annie von der Anprobe fortgelaufen ist, trägt er den Brief bei sich, immer noch unschlüssig was er tun soll. Er hat ihn so oft gelesen, dass er den Inhalt auswendig kennt.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt