66 | Danach - Part II

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Aller Hoffnung zum Trotz sind die nächsten Tage und Wochen in Distrikt Vier grau. Beinahe schlimmer als im letzten Winter und dabei naht der Sommer mit großen Schritten. So schnell, dass der stetige Temperaturaufschwung heftige Gewitter mit sich bringt. Der Himmel ergießt sich in Sturzbächen aufs Land, während die Wellen derart peitschen, dass es gleich mehrere der wenigen, vom Hafenbrand verschonten Fischerboote mitsamt Besatzung in ein nasses Grab reißt. Früher hätte das Kapitol nach dem zweiten Vorfall dieser Art ein Ausfahrverbot verhängt. Zumindest für zwei, drei Tage wären alle in ihren Häusern geblieben, um sich im Kreis der Familie zu stärken. Jetzt hebt man in der Hauptstadt die geforderten Fangquoten.

Für jene, die ihre Boote verloren haben, heißt das, auf einem der großen neuen Kutter anheuern zu müssen, die das Kapitol einen Tag nach Verkündung des Jubeljubiläums per Hovercraft geliefert hat. Mehrere Tage oder gar Wochen sollen die stählernen Monster auf hoher See bleiben. Besetzt sind sie mit zwei Hundertschaften an Friedenswächtern und noch während sie auf Fangtour sind, wird der Fisch im Schiffsbauch weiterverarbeitet. Aber selbst mit den riesigen Schleppnetzen schafft man es auf diesen Ungetümen kaum, die Quoten einzuhalten.
Immer wieder werden Sanktionen gegen die Fischer verhängt. Im Endeffekt entscheiden sich selbst die Betreiber kleiner Boote gezwungenermaßen, längere Touren einzulegen, bei denen sie Leib und Leben aufs Spiel setzen. Alles andere ist ohnehin keine Option. Wer nicht kooperiert, wird hingerichtet. Künftig ohne vorige Inhaftierung, ohne Verfahren – ohne öffentliche Zurschaustellung der Strafe. Gleich drei Wellenkinder werden von den Friedenswächtern in ihren Häusern überrascht. Mit einer Kugel in den Kopf, an Ort und Stelle.

»Deutlicher kann es nicht sein, dass sie uns alle tot sehen wollen«, faucht Amber, als Rob ihr und Finnick beim nächsten Treffen der Letzten Welle von den Zuständen am Hafen erzählt. »Was hält sie noch auf, den ganzen Distrikt dem Erdboden gleichzumachen? Offenbar schmeckt ihnen der Fisch ja nicht gut genug, um den Betrieb nachhaltig am Laufen zu halten!«
Aber die Angst obsiegt. Gerade bei den Widerständlern. Man fügt sich.
»Wir haben einfach zu viel zu verlieren. Wer soll noch kämpfen, wenn wir uns jetzt alle aus Trotz erschießen lassen?« – das sind Marlias resignierte Worte, nachdem sie zum dritten Mal innerhalb derselben Woche eine unbeschriftete Muschel an die Zweige des Gedenkbaums auf dem Friedhof bindet. Ihr Blick gilt nicht Finnick oder Amber, die als einzige zu dieser winzigen Abschiedszeremonie kommen konnten, sondern der aufgebrachten See in der Ferne. »Wir müssen einen anderen Weg finden, den Druck auf das Kapitol aufrechtzuerhalten. Gerade jetzt, mit dem Jubiläum ... das ändert alle Pläne. Ohne euch –«

Finnick zieht die Kapuze seiner Öljacke tiefer in die Stirn und seufzt nur. »Nein, eigentlich ändert das nicht sonderlich viel. Ich glaube, es hilft eurer Situation sogar.«
Neben ihm knirscht Amber mit den Zähnen. Mal wieder. Seit der Verkündung des Jubeljubiläums hat sie praktisch nicht damit aufgehört.
»In Distrikt Acht gab es große Streiks«, fährt er ungeachtet dessen fort. »Ganz normale Arbeiter haben eine Garnison der Friedenswächter besetzt – weil sie Gerechtigkeit für ihre Sieger gefordert haben.«
Marlia schnappt nach Luft. »Sie haben gegen die Friedenswächter ... gewonnen?«

Amber schnaubt, aber bevor sie etwas sagen kann, schüttelt Finnick schon den Kopf. »Nur für den Moment. In Acht sind immer noch genug Einheiten stationiert, um den Menschen das Leben zur Hölle zu machen. Es ist jeden Tag aufs Neue ein Kampf ums Überleben dort. Daran ändert auch diese eine verlorene Garnison nichts.«
»Aber das beweist, dass es nicht unmöglich ist, das Kapitol zurückzuschlagen!«, hält Marlia dagegen. Ihre Wangen färben sich rot. »Das ist ... wunderbar.« Sie lächelt grimmig. »Rob wird das hören wollen. Habt ihr irgendwelche Details zu dem Vorgehen der Textilarbeiter? Gibt es vielleicht Videomaterial? Wir brauchen alles, was wir kriegen können!«

»Immer langsam –« Abwehrend hebt Finnick die Arme. Auch wenn er insgeheim dasselbe empfindet. Hätte er nicht die kapitolinternen Berichte gesehen, die Beetee nach ihrem letzten Gespräch geschickt hat, würde er selber kaum glauben, was in ganz Panem geschieht. »Denk jetzt bitte nicht, ich will euch zu irgendwelchem Leichtsinn anstiften.«
Seine Zurückhaltung beeindruckt Marlia nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Die Röte steckt ihr ganzes Gesicht in Brand, während sie die Muschel in ihren Händen so fest drückt, dass es knackt. »Nein, nein«, murmelt sie, »ich will nichts überstürzen. Es wäre nur leichtsinnig, diese Ereignisse zu ignorieren.«

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt