50 | Die stärkste Macht - Part II

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Mit einem sanften Ruck kommt der Wagen zum Stehen. Einen Moment lang bleibt Finnick sitzen, den Blick auf den hohen Wolkenkratzer gerichtet, vor dem sein Fahrer gehalten hat. Aus unzähligen hell erleuchteten Fenstern pulsiert das Leben.

Am liebsten würde er hier unten bleiben, im Halbdunkel des Autos, zwischen weichen Lederpolstern und mit einem schweigsamen Friedenswächter als Chauffeur. Allein bei dem Gedanken daran, auszusteigen und seinem nächsten Termin entgegenzutreten, verknotet sein Magen sich in einen komplizierten doppelten Achterknoten.

Selten hat er eine Woche wie diese erlebt. Es scheint, dass Snow alles daran setzt, ihn aus dem Distrikt vier Appartement – und damit von Annie – fernzuhalten. Einladungen zu unnützen Partys und weiteren Stelldicheins füllen seinen Terminplan, genau wie heute Abend. Eine Menge Geld hat zweifellos den Besitzer gewechselt, damit er in dieser Nacht einmal nicht Titania Creed mit seiner Anwesenheit beehren muss, sondern jemand neuen.

Der Friedenswächter beobachtet ihn aufmerksam im Rückspiegel, also wirft Finnick ihm ein übertriebenes und absolut unaufrichtiges Lächeln zu, fährt sich durch die Haare und tritt hinaus auf den Bürgersteig. Seine Gedanken kreisen um Haymitch und seine Tribute, aber diese Überlegungen muss er nun für die Nacht verdrängen. Hoffentlich ist es morgen nicht bereits zu spät, seinen Plan Beetee zu verkünden.

Die warme Sommernacht lockt Finnick mit vollmundigem Blumenduft und Gelächter, das von einem Restaurant ein paar Häuser entfernt zu ihm herüberweht, doch er ist sich des stechenden Blicks seines Chauffeurs im Rücken nur allzu bewusst. Keine Fehltritte.

Straffen Schrittes betritt er die kühle Lobby des hoch aufragenden Wohngebäudes. Heller Marmor und feine Goldakzente setzen ein deutliches Statement für den Wohlstand der Menschen, die sich hier ein Leben leisten können. Der Rezeptionist hebt nur kurz den Blick und nickt ihm zu. Offenbar ist er über sein Kommen unterrichtet.

Der Fahrstuhl informiert Finnick, dass das Gebäude mehr als vierzig Stockwerke hat. Sein Klient wohnt nur in Etage vierzehn, was ihn überrascht. Er kennt die Preise nicht, aber bloß eine Stunde mit ihm ist nicht billig. Für gewöhnlich wohnen seine Liebschaften in den riesigen Penthouses ganz oben in den Wolkenkratzern.

In der vierzehnten Etage selber hält sich der Prunk eher zurück. Zwar ist der Boden mit einem schweren grauen Teppich belegt, der jeden Schritt schluckt, aber die Wohnungstüren reihen sich dicht aneinander und davor liegen vereinzelt bunte Schuhpaare und Regenschirme. Manche haben auffällige Klingelschilder aufgehängt, die stolz die Namen der Anwohner verkünden. Untern den glänzenden goldenen Flurlampen wirken die Spuren des Lebens ernüchternd normal.

Vor der Tür von Finnicks heutigem Kunden herrscht Leere. Verunsichert schaut er auf das Memo – nur Adresse und Datum, kein Name – das Cece ihm beim Frühstück zugeschoben hat. Er ist richtig hier. Nervös betätigt er die Klingel.

Es dauert nicht lange und ein groß gewachsener Mann öffnet ihm die Tür. Ein warmes Lächeln breitet sich auf dessen Gesicht aus. „Schön, dass Sie hergefunden haben. Bitte sehr." Einladend weist er in seine Wohnung.
Doch Finnick steht wie angewurzelt draußen und starrt seinen neuen Kunden an. Das schlichte Äußere und die kurzen dunklen Locken kommen ihm bekannt vor, er weiß nur nicht mehr woher ... womöglich der Spross einer reichen Familie, der erst noch groß rauskommen will?

Der schwarze Stoff des legeren Anzugs seines Käufers raschelt leise, als dieser mit einem fragenden Blick beiseitetritt. In Gedanken weiter rätselnd, folgt Finnick seiner Einladung.

In der Wohnung ist es dunkel. Nur ein paar Kerzen erhellen den versenkten Wohnbereich und irgendwo spielt leise Klaviermusik. Das ganze Ambiente jagt ihm einen Schauer über den Rücken.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt