13 | Keine von uns - Part I

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Distrikt zwölf muss einer der traurigsten Orte auf Erden sein. Das ist der erste Gedanke, der Finnick in den Kopf kommt, als das Team aus Distrikt vier den Zug für den ersten Stop auf der Siegestour verlässt.
Ärmliche kleine Häuser drängen sich um den Festplatz, grau vom Kohlenstaub – genauso grau wie der Himmel an diesem eisigen Wintertag. Die Luft riecht und schmeckt seltsam verbrannt. Natürlich ist es erst drei Jahre her, dass er zuletzt hier war, doch ganz offensichtlich ist es dem Distrikt in der Zwischenzeit nicht besser ergangen.
Eilig werden sie von dem Bürgermeister in das Rathaus gescheucht, während draußen auf dem Platz die letzten Vorbereitungen stattfinden. In der großen Eingangshalle ist es bitterkalt, obwohl ein Kohleofen in der Ecke hell erleuchtet ist. Frierend ziehen sie ihre dicken Wolljacken enger um sich. 

Ein blondes Mädchen, offensichtlich die Tochter des Bürgermeisters, begrüßt sie mit einem kleinen Silbertablett, auf dem kleine Törtchen angerichtet sind.
In diesem Distrikt müssen sie ein Vermögen wert sein, denkt Finnick.
Dem Rest seines Teams scheint der Appetit vergangen zu sein. Selbst Riven, die sich sonst so selbstbewusst gibt, ist nun sichtlich bleich um die Nase. Was wenig verwunderlich ist, war es doch ein von ihr geworfener Speer, der das Leben von dem Mädchen aus Distrikt zwölf beendet hat, gleich beim Blutbad in den ersten chaotischen Minuten.

Doch Finnick will die Gastfreundschaft nicht enttäuschen und so greift er sich ein Himbeertörtchen. Es ist angenehm fluffig und süß, doch es hinterlässt einen sauren Nachgeschmack, als er daran denken muss, dass sie sich gleich im ersten Distrikt den anklagenden Augen derer aussetzen müssen, deren Tochter durch die Hände ihres Schützlings gestorben ist. 

Er würde gerne behaupten, dass er irgendwie auf diese Begegnung vorbereitet ist, doch das wäre eine Lüge. Bisher hat es in seiner Karriere als Mentor vor Riven nur Annie gegeben, die siegreich gewesen ist und bei ihrer Siegestour war alles anders. Sie hat nur einen Tribut getötet und selbst das nur in absoluter Notwehr. Vielleicht zwei, wenn man eine Verkettung unglücklicher Umstände in Shines Fall dazu zählt.
Doch da sie ohnehin von Schuldgefühlen geplagt in jedem Distrikt einen Nervenzusammenbruch erlitt, bis man sie so stark unter Medikamente setzte, dass sie kaum noch Herrin ihrer Sinne war, ist es für die Menschen in den Distrikten schwer gewesen, sie zu hassen.

Riven hingegen ... hat ihrem Ruf als Karriero alle Ehre gemacht. Und dann sind da noch die Mentoren derer, die gestorben sind. Im Falle von Distrikt zwölf immerhin nur einer und Haymitch Abernathy ist obendrein ein alter Säufer, das hat er erst beim Finale der Hungerspiele unter Beweis gestellt, als er besoffen umfiel.
Trotz all seiner Sorgen zwingt Finnick sich der Bürgermeistertochter ein ehrliches Lächeln zu schenken. Sie kann schließlich nichts dafür. Doch auch sie scheint nicht in guter Stimmung zu sein und verschwindet hastig wieder.

Lange müssen die Mentoren jedoch nicht in der kalten Halle ausharren, ehe sie von Friedenswächtern hinaus auf die Bühne vor dem Rathaus geführt werden. Zunächst die Stylisten, dann Cece und schließlich die Mentoren selbst. Ganz alleine folgt Riven, den Kopf mit der Krone obenauf hoch erhoben, doch ihre leicht zitternden Lippen verraten sie.
Immer zu zweit betreten die Mentoren die Bühne, sodass Finnick es schafft, neben Annie herzugehen. Sie hat sich tief in ihre dunkelblaue Jacke vergraben, den Kragen bis zum Kinn hochgezogen.
„Alles in Ordnung?", flüstert er ihr leise zu.

Sie blickt ihn kaum an, sondern zuckt nur unmerklich mit den Schultern. Ihr Blick ist leicht verschleiert in die Ferne gerichtet und er ahnt, dass sie wieder zu Morfix gegriffen hat, um die Gefühle zu betäuben. Vielleicht hat auch Cece ihre Finger im Spiel, ganz nach dem Motto lieber eine betäubte Annie als eine schreiende.
Wie gerne würde er ihr noch etwas sagen, doch jetzt treten sie bereits hinaus auf die einfache Bühne und vor das Volk von Distrikt zwölf. Nur kurz wagt er es, ihre Hand zu berühren, sodass es nur aussieht, als hätte er sie nur aus Versehen berührt. Nicht, dass die breite Masse aus Distrikt zwölf dem viel Beachtung schenken dürfte. 

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt