Annie sitzt ruhig an dem Esstisch in seiner Küche, eine dampfende Tasse Tee vor sich, als Finnick gemeinsam mit der klatschnassen Riven hereinkommt. Stumm mustert sie die Spur aus Wassertropfen, die er und sein überraschender Gast auf dem Holzboden hinterlassen, ehe sie zwei weitere Tassen aus einem der Schränke holt und Kräutertee einfüllt.
Riven bleibt im Türrahmen stehen, die Arme fest um ihre Mitte geschlungen. Ihre Augen sind wachsam auf Annie geheftet. Falls sie überrascht ist, dass Annie in Finnicks Haus und nicht in ihrem eigenen ist, dann lässt sie es sich nicht anmerken. Dabei trägt Annie sogar einen von Finnicks Pullovern aus weichem Kaschmir, die ihm selber viel zu warm sind.
Andererseits ist es wohl ohnehin offensichtlich, denkt Finnick resigniert. Snow wird nicht der Einzige sein, der es trotz aller Vorsicht gemerkt hat und hier in Distrikt Vier wissen es vermutlich noch mehr Personen, die sie beide in den letzten Jahren beobachten konnten.„Ihr solltet trockene Kleider anziehen, bevor ihr euch erkältet", sagt Annie nüchtern. „Ich habe noch etwas oben, das du haben kannst, Riven. Es müsste dir passen."
Sie stellt keine Fragen, wundert sich nicht, warum er plötzlich Riven mit nach Hause bringt. Vermutlich ahnt sie längst, was der Anlass ist. Seit sie endlich Abstand zwischen sich und das Kapitol gebracht hat, gibt es wieder mehr gute Tage für sie, an denen sie ihre scharfe Beobachtungsgabe unter Beweis stellt. Bisweilen hat Finnick fast den Eindruck, dass es ihr besser als je zuvor geht, auch wenn das trügerisch ist. Der Schmerz ist nur eine Schicht tiefer gewandert; dorthin, wo selbst er ihn manchmal nicht mehr sieht. Die Folgen ihrer Behandlung im Kapitol.Zusammen mit der wortlosen Riven verschwindet Annie in Richtung Treppe. Zum ersten Mal seit ihrem Sieg scheint Riven ihr nicht nur mit Herablassung zu begegnen. Der Trotz funkelt immer noch in ihren Augen, als sie in Annies Kleidern in die Küche zurückkehrt, aber es ist die Art stillen Selbsterhaltungstriebs, den sie braucht, um nicht völlig zusammenzubrechen, angesichts der Dinge, sie erlebt – und getan – hat.
Finnick selber hat sich ebenfalls ein paar trockene Sachen aus dem überflüssigen Ankleidezimmer im Erdgeschoss geschnappt, die das Vorbereitungsteam jedes Jahr in Hülle und Fülle zu ihm schickt. Jetzt ist er für die anstehende Unterhaltung overdressed, aber sie sind ganz andere Extreme aus dem Kapitol gewöhnt.Annie folgt Riven wie ein stiller Schatten und lässt sich neben Finnick nieder, ihre Hände erneut fest um ihren Lieblingsbecher mit den bunten Punkten geschlungen. Nur er weiß, welche Rettungsanker diese Kleinigkeiten für sie sind. Sie lindern ihre Nervosität, wenn sie sich mit ihnen umgibt, genauso wie ihre Anwesenheit Bestärkung für ihn ist.
„Ich werde bleiben", stellt Annie beherrscht klar und sieht ihm direkt in die Augen. Ein Blick, der keinen Widerspruch duldet. Glücklich ist er darüber nicht, denn dieses Gespräch wird schmerzhaft, das weiß er. Aber Annie scheint wild entschlossen und wenn er eines gelernt hat, dann, dass sie einen eisernen Willen hat.Riven lässt sich nur zögerlich ihnen gegenüber nieder, die Arme weiterhin um ihre Körpermitte geschlungen. Es sieht nicht danach aus, dass sie von alleine anfängt zu reden, also beginnt Finnick mit einer schonungslosen Wahrheit. Lieber reißt er das Pflaster in einem Ruck ab, als die Umstände länger zu beschönigen.
„Es bringt nichts, zu ignorieren, was geschehen ist, Riven. Du darfst nicht vergessen, ich – wir – sind ebenso Sieger wie du. Wir haben dasselbe durchgemacht wie du, mehr sogar noch, mit jedem Jahr Mentoring. Cordelia und Edy sind tot, weil wir sie nicht retten konnten. Und ja, es tut uns leid, dass es so passiert ist. Aber das Leben geht weiter, auch ohne sie. Du darfst sauer und auch traurig sein, aber lass das nicht an denen aus, die nichts dafür können."„Ach, und das ändert was?" Ohne ein Schwert in der Hand ist Riven bedeutend weniger aggressiv, wenn auch weiterhin angriffslustig. Zumindest ein Anfang.
Annie pustet nachdenklich auf ihren Tee, den Blick in sich gekehrt. Sie sieht Riven nicht einmal an, als sie zu sprechen beginnt. „Es ändert nichts. Der Ausgang dieser Sache ist unveränderlich. Wir haben sie verloren. Aber darum geht es hier auch gar nicht oder?" Ihr Blick wandert zum Fenster hinüber, von dem die Regentropfen abperlen. „Es geht nur darum, wie wir damit leben. Ob die Toten uns verfolgen. Ob sie unser Leben bestimmen oder wir uns von ihnen verabschieden."
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Meeressturm | Annie Cresta
FanfictionDie Hungerspiele zu gewinnen ist erst der Anfang. Das weiß niemand besser als Annie Cresta, in ganz Panem nur ‚die Verrückte' genannt. Geplagt von den Geistern der Vergangenheit versteckt sie sich an der Seite von Finnick Odair vor der Welt, in der...