64 | Zerbrechliche Zukunft - Part II

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Der nächste Tag beginnt genauso strahlend wie der vorige. Schäfchenwolken, ein erster Streifen blauen Himmels und zwitschernde Vögel begrüßen mich zusammen mit Finnick, der zum Frühstück ein paar Krabben und Gartengemüse in der Pfanne röstet. Wir essen auf der Veranda und lassen die Beine über den Rand baumeln, während die Sonne langsam das Meer glutorange färbt. Ein Morgenritual, an das ich mich glatt gewöhnen könnte. Eigentlich habe ich es schon, denn die letzten Wochen fühlen sich länger an als nur der Übergang von Winter zu Frühling. Wenn der Distrikt uns nur nicht mit seinen Verpflichtungen rufen würde ...

Dafür ist die See immerhin spiegelglatt, sobald Finnick und ich mit den ersten richtigen Sonnenstrahlen zurück an die Küste fahren. Rückblickend betrachtet werde ich annehmen, dass es vielleicht zu viel des Guten war; zu viel Glück in einem Land, in dem die Hoffnung höchstens auf Sparflamme brennen darf. Ich werde mir vorwerfen, dass ich hätte bemerken müssen, wie sich die dunklen Wolken nicht am Horizont zusammenbrauen, sondern aus ganz anderer Richtung kommen. Doch in diesem Moment habe ich nur Augen für die Schildkröte, die neben unserem Ruderboot schwimmt und zum Abschied fast mit der Flosse zu winken scheint.

Zurück am Festland verstecken Finnick und ich wie immer das Boot und mischen uns unter das frühmorgendliche Getümmel am Hafen. Über die letzten Wochen haben wir das Vorgehen perfektioniert: Wir haben extra abgetragene Arbeitskleidung auf dem Gebrauchtwarenmarkt gekauft, damit wir in der Menge nicht durch unsere makellosen Jacken oder Hosen auffallen. Im Bootsschuppen bewahren wir einen Sack mit alten Kohlen aus dem Kamin auf, die wir nach der Ankunft zerbröseln und zusammen mit etwas Sand und trockenem Lehm dafür nutzen, uns dreckig zu machen. Finnick fährt sich damit durch die Haare, bis sie nicht mehr so glänzen, wie sie es nach einer Wäsche mit dem Shampoo aus dem Kapitol tun, und ich flechte das meine in einem schludrigen Kranz um den Kopf.

Das ist der Vorteil daran, wenn einen alle Welt in erster Linie aus dem Fernsehen kennt – sobald man einmal vor den Leuten steht, noch dazu genauso verdreckt wie sie, sehen sie zuerst das, was die Kameras sonst verschlucken. Unsere Menschlichkeit. Jeder kleine Makel, für gewöhnlich von Make-up verdeckt und jetzt vom Dreck hervorgehoben, bricht mit den Erwartungen der Menschen an das Aussehen zweier Sieger. Ein paar Fischernetze, die wir über den Schultern tragen, komplettieren die Tarnung.

Die Menschenmenge am Hafen ist spürbar geschrumpft und alle gehen ihrer Arbeit mit gesenktem Kopf nach. Wo einander einst fröhliche – teils derbe – Begrüßungen oder Witze zugerufen wurden, herrscht nun gedrückte Stimmung. Nur noch die wichtigsten Arbeitsanweisungen werden von Hafenangestellten sowie Fischerinnen und Fischern ausgetauscht. Dafür sorgen die fünf Friedenswächter, die an jedem Pier stehen, um die Ausweise zu kontrollieren und nebenbei immer wieder wie zufällig ihre neuen Gewehre herumschwenken.

Aber nicht nur an den notdürftig reparierten Stegen sind heute Soldaten postiert. Auch an den wenigen Marktständen, die seit dem großen Brand noch übrig sind, stehen dieses Mal Männer in voller Montur. Dort, wo Finnick und ich in letzter Zeit immer wieder Kleinigkeiten als Alibi für das Siegerdorf besorgt haben, halten sie die Kunden an, kontrollieren Taschen und Werkzeuge. Ich kann nicht hören, was die Friedenswächter sagen, doch ihre Hände, die unentwegt auf die Pistolengriffe an ihren Hüften trommeln, sprechen Bände.

Auch Finnick fällt das auf, denn er greift nach meinem Arm und zieht mich enger an sich. Besorgt sehe ich ihn an, eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Der erste Instinkt sagt mir, dass wir unseren Abstand vergrößern sollten, wie im Kapitol. Ich ernte allerdings ein sachtes Kopfschütteln und Finnick legt eine Hand auf meinen unteren Rücken, mit der er mich sanft, doch bestimmt voran schiebt.

»Schau mal da vorne«, sagt er in ganz normaler Lautstärke, als wäre alles in bester Ordnung und nicht etwa die Anspannung in der Luft so greifbar wie die Elektrizität in Distrikt Fünf, »da gibt es schön gefärbte Stoffe und Garne. Perfekt für Großmutter, genau so etwas wünscht sie sich. Was meinst du, welche Farbe wird ihr für die neue Hängematte gefallen?«
Ich halte den Atem an. Doch wir gehen an den Friedenswächtern vorbei, ohne dass uns jemand aufhält. Die Männer sehen beim Klang von Finnicks Stimme nicht einmal auf.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt