07 | Von Salz und Muscheln - Part II

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Die Sonne erklimmt langsam den Horizont, als wir wenig später in unserem einfachen Ruderboot durch die Bucht gleiten. Ruhig rollen die Wellen unterhalb des Boots hinweg. Es verspricht ein klarer Tag zu werden, mit nur wenigen Schleierwolken am Himmel. Das Boot, in dem Finnick und ich sitzen, ist nur ein kleines hölzernes Bötchen, ein wenig angenagt vom Zahn der Zeit, doch größtenteils intakt. Seinen Rumpf haben wir gemeinsam erst vor wenigen Monaten neu lackiert und so erstrahlt es in einem fröhlichen Ozeanblau.

Ich genieße die Weite von Himmel und Meer nach der Enge unseres Distrikts und ich ahne, dass es Finnick genauso geht. Nach der langen Zeit im Kapitol muss einem die Weite hier draußen grenzenlos vorkommen. Vorsichtig strecke ich meine Fingerspitzen in das warme Wasser. Von oben betrachtet glitzert das Meer so unschuldig, doch das dunkle Blau der Tiefe, das unter dem Bug dahin zieht, lässt mich immer noch erschaudern. Was könnten sich in der Tiefe nicht alles für Monster verbergen ...

Messerscharfe Zähne blitzen urplötzlich in meinen Gedanken auf. Ruckartig ziehe ich meine Hand aus dem Wasser. Mit rasendem Herzen schaue ich auf meine Fingerspitzen, doch es sind keine Bissspuren zu sehen. Ich starre auf die sanften Wellen hinaus, mit einem Mal von Angst erfüllt. Die Piranhas sind nicht echt. Sie waren nur eine Schöpfung des Kapitols in der Arena. Es gibt keine Piranhas in Distrikt vier. Ich presse meine unversehrten Händen auf meine Ohren um das laute Rauschen der Wellen auszusperren. 

„Ich bin nicht unter Wasser. Ich bin nicht unter Wasser. Ich bin nicht unter Wasser. Das Meer kann mir nichts anhaben. Sie können mir nichts anhaben. Ich bin in Sicherheit. Ich bin in Sicherheit, ich kann schwimmen", murmle ich zu mir selbst. Aber stumme Schreie schleichen sich in meinen Kopf, Hände greifen nach mir und Mäuler voll spitzer Zähne schnappen nach mir. Ich kneife die Augen fest zusammen, in der Hoffnung, die aufsteigenden Bilder so verdrängen zu können. Natürlich toben sie nur weiterhin hinter meinen Augenlidern. 

Dann spüre ich sanfte Hände auf meinen Schultern. Eindringliche Worte dringen durch das tosende Wasser um mich. „Annie, bleib bei mir. Bleib bei mir."
Ich kenne diese Stimme. Finnick! Rasselnd hole ich Luft, es klingt wie der erste Atemzug einer Ertrinkenden.
„Finnick? Fin, bist du das?", frage ich überflüssigerweise.
„Ja, ich bin bei dir", er drückt mich noch fester an den Schultern, „ich bin direkt vor dir. Mach die Augen auf und du kannst mich sehen."

Das Wasser der Arena schwappt noch immer um mich herum und irgendwo unter mir sind blutrünstige Piranhas. Shine aus Distrikt eins ist von ihnen gefressen worden! Es kann nicht sein, Finnick kann nicht bei mir sein. Er ist nicht mit mir in der Arena. Doch seine Stimme dringt weiter auf mich ein.
„Die Arena ist vorbei. Du hast bereits überlebt."
Große Hände legen sich vorsichtig auf meine, die noch immer fest an die Ohren gepresst sind. Etwas Warmes berührt meine Stirn, während das Wasser um mich herum mich zu ertränken versucht. Ein Kanonenschuss übertönt die nächsten Worte. Saß ich nicht eben noch in einem Boot?

Gedanke um Gedanke schlägt über mir zusammen. Die Arena verschwindet aus meinen Gedanken. Zurück bleibt nur noch Angst – und das Gefühl von Händen, die mich vorsichtig halten, Atem der über meine Wangen streicht.
Die Dunkelheit um mich lichtet sich, als ich zaghaft die Lider aufschlage. Mein Blick begegnet denen aus blau-grünen Augen.
„Finnick", hauche ich mit kratziger Stimme, „ist es echt?"
Ich sehe nur sein Gesicht ganz nah vor mir und er schüttelt den Kopf.
„Nein, es ist nicht echt", antwortet er ebenso leise.

Ihm würde ich immer vertrauen. Ich lasse meine Hände sinken. Er zieht sich einen Schritt zurück, jedoch ohne mich loszulassen. Natürlich bin ich nicht in der Arena. Ich sitze in einem kleinen Ruderboot, um uns herum ist das Meer von Distrikt vier und über uns scheint die Sonne. Das Wasser um uns herum ist viel blauer als das eisige Grau, das mich in der Arena überschwemmt hatte.
In der Ferne kann ich bunte Schuppen glitzern sehen, als ein Schwarm kleiner Fische vorbei gleitet, ganz ohne messerscharfe Reißzähne. Tief hole ich Luft und spüre wie ein Teil der Angst fortgeschwemmt wird. Die ganze Zeit über beobachtet Finnick mich ruhig. Dankbar schenke ich ihm ein Lächeln.
„Es ist nicht echt", sage ich noch einmal, wie um es mir zu bestätigen.
Finnick nickt. „Es ist nicht echt."

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt