49 | Die stärkste Macht - Part I

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Im Festsaal unter dem Trainingscenter ist es gespenstisch still. In dem Moment, da Katniss Everdeen mit ihrem dritten Pfeil auf die Vorräte der Karrieros zielt, könnte man ein Glitzersteinchen von den üppigen Kleidern der Sponsorinnen fallen hören.

Selbst Beetee hat aufgehört, wilde Notizen für mögliche Regeländerungen auf seinen kleinen Schreibblock zu kritzeln. Obwohl er und Finnick seit Tagen über nichts anderem mehr gebrütet haben – hier, im Trainingscenter und sogar auf einer Party im Präsidentenpalast – scheint ihr verzweifeltes Ringen nach einem Plan für den Augenblick vergessen. Beetees Finger mit dem Stift in der Hand schweben immer noch über dem Papier, aber seine Augen sind fest auf die Bilder aus der Arena gerichtet.

Grelles Weiß erfüllt den Bildschirm, als ein Apfel nach dem anderen aus dem Netz fällt und fast meint Finnick, dass der Marmorboden unter seinen Füßen erzittert. Hastig wechselt die Ansicht zu einer höher gelegenen Kamera, die von oben das verheerende Ausmaß der Detonationen einfängt. Von der einst stolzen Vorratspyramide bleibt nur ein Häufchen Asche.

Die Wucht hat Katniss von den Füßen geworfen. Sie liegt flach atmend auf der Erde und starrt mit einem wilden Ausdruck auf die von ihr verursachte Verwüstung. Ein Rinnsaal Blut läuft aus ihrem Ohr, aber das nimmt sie anfangs gar nicht wahr. Auf allen vieren kriecht sie zurück in das Gebüsch am Rand der Lichtung.

Beetee stößt ein leises Zischen aus. „Verdammt, das war clever." Sein Blick huscht suchend über die Leinwände, während er die Mine seines Stifts immer wieder ein- und ausfährt.
Finnick mustert seinen Verbündeten, dessen kleine Ticks ihn nach all den Tagen, die sie die Köpfe zusammengesteckt haben, die Wände hochtreiben könnten. „Sie haben's verdient", brummt er missmutig. Das Karrierobündnis ist angezählt und er bedauert es kein bisschen.

Sein Gegenüber lässt sich allerdings nicht zu einer Antwort herab. Mit der Zunge zwischen den Lippen verfolgt er angespannt, wie die Tribute aus Eins und Zwei aus dem Wald herausstolpern und zuerst fassungslos, dann wutentbrannt, auf die verkohlten Überreste ihrer Vorräte starren.

Erst da wird Finnick klar, worüber Beetee sich wirklich Sorgen macht. Natürlich. Sein Schützling, der auf das Lager aufpassen sollte, gehört auch zu den Karrieros. Zumindest solange er nützlich für sie ist. Jetzt steht er jedoch genauso bestürzt vor dem kläglichen Häufchen Asche wie die anderen Tribute. Wäre er nicht vorhin dem Mädchen aus Distrikt fünf gefolgt, hätten die Explosionen ihn vielleicht getötet.

Kaum, dass Cato ihn erblickt, wird seine erboste Stimme laut. „Was ist hier passiert? Wer hat das getan?!"
Der Tribut versucht stammelnd, eine Erklärung für die Verwüstung zu finden, doch den Karriero interessiert das nicht länger. Grob packt er den Speer des Jungen und entreißt ihn seinem Griff. „Das brauchst du nicht mehr", zischt er mit einem gehässigen Grinsen. Mit einem letzten Rest Entschlossenheit will der Kleine weglaufen, aber Cato ist schneller – und stärker.

Beetees Augen weiten sich und der Stift in seinen Fingern kommt zur Ruhe. Cato schließt die kräftigen Hände um den Kopf des vierzehnjährigen Tributs. Es braucht bloß einen energischen Ruck und sein Körper fällt leblos zu Boden.

Im Festsaal geschehen viele Dinge auf einmal. Irgendwo im Saal lacht jemand. Beetees Augen schließen sich erschöpft. Eifriges Getuschel breitet sich unter den Gästen aus dem Kapitol aus. Eine übermütige Sponsorin fordert laut, dass man Enobaria und Brutus eine Flasche teuersten Champagner bringen soll, um auf den nahenden Sieg anzustoßen. Gloss und Cashmere hingegen erheben sich steif aus der gemeinsamen Sitzecke mit den Mentoren aus Distrikt zwei.

Cashmeres Lippen sind ein schmaler Strich, als sie mit klappernden Absätzen davonstolziert, eine sichtlich ausgedünnte Herde der Bewunderer an den Hacken. Nicht mehr lange und es wird sich zeigen, ob Marvel Cato gewachsen ist. Der Frieden ist zum Scheitern verurteilt.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt