Am nächsten Tag verlassen sie mit den ersten Sonnenstrahlen die Insel. Länger als eine Nacht können sie nicht auf Emerald Isle verweilen, schließlich besteht doch immer die Chance, dass ihr Verschwinden bemerkt wird. Sie fahren mit dem Boot über das glatte Meer. Vom Hafen her dringen die Geräusche der Fischer hinüber, die sich für einen Tag auf See vorbereiten. Zurück am Festland verstecken sie das Boot wieder in einem alten Bootsschuppen am Rande des Armenviertels. Er steht schon lange leer und erweckt keinen Verdacht. Annie schweigt auf dem Rückweg und scheint tief in Gedanken versunken zu sein. Finnick weiß es besser, als sie zu stören und überlässt sie ihrer Gedankenwelt.
So ist es gewesen, seit sie aus der Arena wieder gekommen ist. Hin und wieder hat sie diese Momente, in denen die Realität in den Hintergrund zu gleiten scheint. Es ist völlig willkürlich, wann das geschieht. Sicher wäre es einmal nützlich, wie bei den Veranstaltungen rund um die Hungerspiele, doch so bequem ist die Psyche freilich nicht. Solange es nur gelegentlich geschieht, sieht er keinen Anlass zur Sorge. Wenn sie nur ihren Gedanken nachhängt oder gar in fernen Traumwelten versinkt, hat sie zumindest keine Angst. Oft lächelt sie sogar. Daher begnügt er sich auch jetzt damit, auf sie zu warten. Und in den Momenten in denen der Schrecken wieder Überhand nehmen würde, wäre er da, um ihre Hand zu halten.
Während sie Hand in Hand zurück durch die Salzwiesen in die Stadt gehen, erinnert Finnick sich an die erste Zeit nach Annies Spielen, als sich das wahre Ausmaß ihrer psychischen Beeinträchtigungen wirklich zeigte. Als sie den Halt an der Realität in schwindelerregender Geschwindigkeit verlor. Er hatte viele Frauen – und Männer – vor Annie gekannt. Sie hatten ihn bei Snow gekauft, in dem Glauben die Körperlichkeiten würden über alles, das ihrem Leben fehlte, hinweg trösten.
In seinen ersten Jahren, nachdem der Verkauf seines Körpers angefangen hatte, war er beinahe selbst diesem Drang erlegen. Hatte versucht Gefühle für manche der Damen zu finden, die ihm im Rausch der Ekstase süße Versprechungen zuflüsterten – die sie nie halten würden, wie er so schmerzhaft erfahren musste. Irgendwann hatte er nur noch angenommen, dass diese Scheinwelt sein Schicksal sei. Nicht einmal Mags, die gute Seele unter den Siegern und eine Stimme der Vernunft, hatte ihm viel mehr Hoffnung geben können. In dieser lieblosen Welt der falschen Versprechungen drohte er ein Schatten seiner Selbst zu werden, doch dann war Annie in sein Leben getreten.
Eigentlich nur ein einfaches Mädchen aus Distrikt vier. Doch ihre meergrünen Augen waren von einer anderen Tiefe gewesen. In ihnen verbarg sich ein ganzes Universum, so schien es ihm schon damals. Er hatte sie schon einmal gesehen, in der Nacht, in der er als Sieger zurück nach Distrikt vier gekommen war. Wie er war sie alleine am Strand gewesen und wenn auch nur für kurze Zeit, waren sie zusammen alleine gewesen. Sie hatte ihn schon damals nicht wie die anderen behandelt, ihn nicht begeistert hofiert, weil er ein Sieger war. Und als er dann Mentor in ihren Hungerspielen war, hatte sie nicht als Ablehnung für ihn übrig. Natürlich, sie hatte schließlich nur seine Bettgeschichten gesehen. Sie hatte ihn als Liebling des Kapitols kennengelernt, nicht als den Jungen aus dem Armenviertel, der keine Familie mehr hatte und sich auf nichts außer sein Talent mit Speer und Dreizack verlassen konnte.
Er dagegen hatte in ihr gesehen, was all seinen Bettgeschichten fehlte: ihre wahre innere Überzeugung, die in seinem Innersten Wiederklang fand. Sie war alles, was er gerne gewesen wäre. Mutig, aber sanft.
Sie trat für ihren Mittribut Pon ein, anstatt, wie er, freiwillig in die Spiele zu gehen. Trotz ihres unfreiwilligen Schicksals hatte sie den Kopf hocherhoben. Sie ließ nie zu, dass die Spiele einen Teil ihrer Menschlichkeit zerstörten. Selbst jetzt noch zahlte sie für ihren einzigen Mord aus Notwehr mit einem Teil ihrer geistigen Gesundheit. Manche mochten sagen sie sei verrückt geworden, doch Finnick fühlte sich als sei er der Verrückte.Schließlich war er freiwillig in die Arena gegangen und trotz seiner Gräueltaten konnte er irgendwie mit seinem Leben weiter machen. Annie dagegen konnte es nicht einmal ertragen, eine Person getötet zu haben. Er bewunderte sie zutiefst für diese Reinheit. Doch das war nicht alles. Sie war witzig und charmant wie sonst keine seiner Bekanntschaften. Es war nur knapp mehr als eine Woche gewesen, die sie sich vor den Spielen kennengelernt hatten, doch das hatte gereicht um Annie nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. Er war bereit gewesen alles für ihr Überleben zu tun – und hatte ihr deswegen schwören müssen, dass Pon überleben sollte. Ein Plan, den das Schicksal vereitelt hatte. Zu sehen, wie zerbrochen sie deswegen aus den Spielen zurückkehrte, hätte auch ihn fast gebrochen.
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Meeressturm | Annie Cresta
FanfictionDie Hungerspiele zu gewinnen ist erst der Anfang. Das weiß niemand besser als Annie Cresta, in ganz Panem nur ‚die Verrückte' genannt. Geplagt von den Geistern der Vergangenheit versteckt sie sich an der Seite von Finnick Odair vor der Welt, in der...