Nur ein Paar kleiner Erdhügel erinnert noch an die beiden Tribute, Nummer dreizehn und vierzehn auf Finnicks langer Liste der Kinder, die er in den Tod begleitet hat. Zwei Namen mehr, die eine Narbe in seinem Herzen hinterlassen haben; die er in sein tägliches Mantra einschließen wird.
Amylin, Flynn, Ephigenie, Titus, Carla, Matthew, Pon, Sia, Gavin, Ylvi, Sam, Eric, Edy, Cordelia.Tränen kommen ihm auch dieses Mal nicht, obwohl er es sich wünscht. Dafür weint Annie seinen Schmerz mit, in jedem Schluchzen, das sich ihrem zitternden Körper entringt. Ihm persönlich bleiben nur Bitterkeit und Resignation, die jegliche Kraft rauben, selbst wütend zu sein oder irgendwas zu empfinden. Schon jetzt graut ihm vor dem Jubeljubiläum und dem Leid, das es unweigerlich bringen wird. Womit soll das Kapitol die Grausamkeiten der letzten beiden Jubeljubiläen denn noch übertreffen?
Langsam zerstreut sich die Trauergesellschaft, allen voran Bürgermeister Southshore, der förmlich das Weite sucht. Für gewöhnlich verbleiben nur Finnick und Annie in der Stille des Friedhofs, aber in diesem Jahr ist ohnehin nichts wie sonst.
Bevor Riven, deren Augen rot unterlaufen von all ihren Tränen sind, flieht, schiebt Finnick sich ihr schweren Herzens in den Weg. Ehe er die Ruhe und Abgeschiedenheit genießen kann, muss er das hier erledigen. Immerhin gehört sie genauso zu ihrer kleinen Familie der Sieger, auch wenn sie es noch nicht weiß oder nicht wahrhaben will. Und jetzt braucht sie ebenso Unterstützung wie Annie.„Riven?"
Er fasst sie nicht an, sondern sorgt dafür, dass genug Luft zwischen ihnen ist, die ihr signalisiert, dass er nur zum Reden hier ist und sich ihr keineswegs aufdrängen wird. Sie soll bloß nicht wieder wegrennen, wie nach Erics Beerdigung.Der Schmerz in Rivens Augen ist offensichtlich, immerhin hat sie eine gute Freundin – womöglich die beste – verloren. Finnick will das Versagen der Mentoren nicht rechtfertigen, aber ihr doch zeigen, dass sie keinesfalls alleine ist mit ihren Empfindungen. Wie ihr Verlust auch ihm schmerzt, wenngleich aus anderen Gründen.
Riven allerdings schlingt nur die Arme enger um sich und starrt ihn mit trotzig vorgeschobenem Kinn an. Ihre hellen Augen sind hart wie Stahl. In ihrer ganzen Haltung lauert etwas Angriffslustiges, eine schlafende Mutation, die nur darauf wartet, losgelassen zu werden.„Es tut mir so leid-", hebt Finnick an, aber sie hört nicht eine Sekunde zu.
Kaum, dass die ersten Worte seine Lippen verlassen haben, schiebt sie sich brüsk an ihm vorbei, nicht ohne eine Schulter schmerzhaft in seine Rippen zu bohren. „Sie waren halt nicht gut genug. Keine Sieger so wie wir. Ich habe es Elia noch gesagt, aber sie wollte ja nicht hören. Das hat sie nun davon."„Denkst du das wirklich? Sie war doch deine Freundin oder nicht? Du weißt, dass das Leben manchmal nur an einem seidenen Glücksfaden hängt. Denk an Eric. Er war nicht schlecht, sonst hätte er es nie so weit gebracht. Verletz ihr Andenken nicht so, das tut dir nur weh."
„Ich war besser als sie. Beide."
„Nein, du hattest mehr Glück!" Schon wird seine Stimme lauter, aber ihre unfassbare Sturheit reizt ihn einfach. Warum kann sie es nicht einsehen, jetzt wo sie beobachten musste, wie alle aus der Akademie, die ihr etwas bedeutet haben, in den Spielen für nichts gestorben sind?Sie schnaubt bloß. „Glück, klar. Wir haben ja alle so ein Glück!" Sarkastisch breitet sie die Arme aus. „Was ist es doch für ein schönes Leben, das wir alle hier genießen, so voller Glück. Ich kotz gleich vor lauter Glück."
Die vorgeschobene Wut in ihrer Stimme erinnert ihn an Johanna, aber gleichzeitig ist da etwas so viel Verletzlicheres in ihrem Blick, der von Tränen zeugt. Im Gegensatz zu Finnicks Freundin klammert Riven sich verzweifelt an das bisschen Schöne, was sie noch im Leben hat – ihre Familie und Freunde. Und selbst Johannas Gleichgültigkeit angesichts ihrer Verluste ist nur aufgesetzt, auch wenn sie Meisterin darin ist, es niemanden sehen zu lassen.„Ich will doch nur, dass du verstehst, Riven-"
„Was soll ich verstehen? Dass es euch allen so leidtut? Keine Sorge, das ist mir klar. Ich sehe doch, wie Cresta flennt wie die Bescheuerte, die ist-"
Wütend schnappt Finnick nach Luft, um ihr seine Meinung zu sagen, aber sie denkt gar nicht daran, ihre Tirade zu unterbrechen, und er hat mehr Erfahrung darin, seinem Zorn nicht bei jeder Gelegenheit nachzugeben.
„-und wie ihr alle Blicke austauscht, als wäre ich ein rohes Ei, dass ihr nicht fallen lassen dürft. Wenn es jemandem leidtun sollte, dann Elia. Sie ist schließlich diejenige, die tot ist. Vermutlich ist sie diejenige, die Glück hatte."
DU LIEST GERADE
Meeressturm | Annie Cresta
FanfictionDie Hungerspiele zu gewinnen ist erst der Anfang. Das weiß niemand besser als Annie Cresta, in ganz Panem nur ‚die Verrückte' genannt. Geplagt von den Geistern der Vergangenheit versteckt sie sich an der Seite von Finnick Odair vor der Welt, in der...