Die kommenden Tage ziehen endlos zäh an mir vorbei, wie ein Gummiband, das sich dehnt und dehnt, ohne je zurückzuschnellen. Oft vergesse ich mitten am Tag, was ich tue, und finde mich starr vor einem Fenster sitzend wieder, den Blick ins Nichts gerichtet. Es vergehen Minuten, bisweilen aber auch Stunden, und plötzlich sehe ich die letzten Sonnenstrahlen hinter den hohen Türmen des Kapitols versinken.
Ich ertappe meine Finger des Öfteren dabei, wie sie von ganz alleine anfangen, sich zu bewegen, mit Sachen herumspielen, oder lange Haarsträhnen verknoten. Egal wie sehr ich es zu unterdrücken versuche, sie schleichen sich immer wieder ans Werk, als würde jemand Fremdes meine Glieder kontrollieren.
Finnicks Pinguin ist ein treuer Begleiter in diesen Tagen und wenn ich das Gefühl habe, den Halt zu verlieren, umklammere ich ihn fest. Das kleine schwarz-weiße Plüschtier ist eine stetige Erinnerung daran, dass ich nicht alleine bin.
Im Fernsehen laufen die Spiele weiter, aber sie plätschern nur an mir vorbei, eine Abfolge an immer gleichen Bildern. Wald, Wiese, der See, Caesar Flickerman im Studio – und von vorne.
Katniss, die über Nacht erst beinahe zur Favoritin geworden ist, liegt jetzt ohnmächtig im Lager von Rue aus Distrikt elf. Fieberkrämpfe schütteln sie stundenlang. Mehr als einmal ruft sie, gefangen in Halluzinationen, Namen. Prim, immer wieder Prim. Aber sie schreit auch nach Peeta, ein oder zwei Mal.Ihn hat es noch schlimmer getroffen. Glaube ich. Cato hat sich ihm entgegengestellt, nachdem er zurückgelaufen ist, um Katniss zu warnen. Sein Schwert hat Peeta das Bein aufgeschlitzt, den halben Oberschenkel. Im Schlamm eines Flusses liegend hat dieser keine Kraft mehr, gegen seine Fieberträume anzukämpfen, aber seine Lippen formen trotzdem hilflos einen Namen, einen einzigen. Katniss.
Alle schmelzen dahin, angesichts des tragischen Liebespaars, wie sie offiziell von Caesar Flickerman getauft werden. Ich höre Cece von ihnen schwärmen und selbst die anderen Mentoren verfolgen mit unglaublichem Interesse jede winzige Bewegung der beiden Jugendlichen.
Die Spiele zerren an meinen Nerven wie die blutrünstigen Piranhas damals im Finale an Shine. Wann immer die Arena im Fernsehen eingeblendet wird, stehe ich auf und verlasse das Zimmer. Es ist sowieso egal, ob ich zusehe. Die Tribute werden dennoch leben – und sterben.
Ich bekomme mit, dass Finnick des Öfteren das Appartement verlässt, frage ihn aber nicht danach. Das Wissen darum wäre keine Erleichterung. Stattdessen suche ich mir abgelegene Ecken, in denen mich niemand findet, vor allem nicht Cece.
Ihre aufgesetzte Freundlichkeit und das ständige Gerede von dem Jubeljubiläum nächstes Jahr nehmen mir noch den Verstand. Ich will nicht einmal daran denken, mit welchen neuen fiesen Bedingungen wir uns dann auseinandersetzen müssen.
Nur beim gemeinsamen Abendessen, zu dem Cece uns immer noch zwingt, erfahre ich von den anderen, was am Tag geschehen ist. So kommt es dazu, dass ich erst am dritten Abend Katniss Erwachen mitbekomme, obwohl sie schon seit der vorangegangenen Nacht wieder auf den Beinen ist. Lange kann ich mich aber auch darüber nicht freuen. Das bedeutet nur, dass die Schonzeit der Spielmacher für sie vorbei ist.
Ich flüchte vor meinen Gedanken und vom Esstisch, als sich mal wieder eine Unterhaltung über die Strategie der verbleibenden Distrikte ausbreitet. Es bemerkt keiner, dass ich zusammen mit den Avoxen, die den Tisch abräumen, davonschleiche.
Im Gang hinter der Küche, der eigentlich nur für die Bediensteten gedacht ist, lehne ich mich mit der Stirn voran an ein Fenster und sinniere darüber nach, ob sich die Hungerspiele in den kommenden Jahren wohl je verändern werden.
Lange bleibe ich mir selbst nicht überlassen. Sanfte Schritte durchbrechen meine konzentrierte Gedankenschleife. Vermutlich ist es doch jemandem aufgefallen, dass ich mal wieder abgehauen bin. Es wäre schön, wenn Finnick käme, aber der ist seit dem Morgen nicht mehr aufgetaucht.
Einen langen Seufzer ausstoßend, drehe ich den Kopf in Richtung des ungebetenen Eindringlings. Es gibt viele Menschen, mit denen ich gerechnet hätte, und sie gehört definitiv nicht dazu.
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Meeressturm | Annie Cresta
FanfictionDie Hungerspiele zu gewinnen ist erst der Anfang. Das weiß niemand besser als Annie Cresta, in ganz Panem nur ‚die Verrückte' genannt. Geplagt von den Geistern der Vergangenheit versteckt sie sich an der Seite von Finnick Odair vor der Welt, in der...