31 | Machtlos - Part I

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 „Edy wir sehen uns bald wieder, versprochen!"
Die letzten Worte von Cordelia, bevor sie zur Arena gebracht wurde, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie ein Echo hallen sie durch meine Gedanken, als wir Mentoren längst auf einer Tribüne am Korso sitzen und die Eröffnung der 74. Hungerspiele erwarten. Auf der großen Leinwand über der breiten Straße läuft ein Countdown. Nur wenige Minuten, bis die Sendung beginnt. Ich denke an unsere Tribute, die jetzt in den gefliesten Räumen unterhalb der Arena warten. Ist es wirklich schon so weit? Es kommt mir vor wie gestern, dass wir im Trainingscenter angekommen sind. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, Cordelia und Edy ewig zu kennen. Ich wollte es nicht, aber sie sind mir ans Herz gewachsen. Wie Pon.

Die Tribüne ist randvoll mit Mentoren, Stylisten und Gästen des Kapitols. Hinter den Absperrungen drängen sich hunderte Bürger, ausgestattet mit Fähnchen und Spielzeugwaffen. Von überall sind Kameras auf uns gerichtet, um die Reaktionen auf das Blutbad einzufangen. Obwohl die Sommersonne uns wärmt, durchläuft mich alleine beim Gedanken daran ein eisiger Schauer. Meine Finger klammern sich fester an die kleine Handtasche mit der einzelnen Morfixspritze.

„Für alle Fälle", wie Cece gesagt hat. Am liebsten würde ich es jetzt schon nehmen, denn mein Herz schlägt so schnell, dass ich glaube, es zerreißt mich. Der Anblick der Mentoren aus Distrikt sechs in der Reihe vor uns erinnert allerdings an die Gefahren des Medikaments. Wenigstens sitze ich neben Floogs, dessen Anwesenheit ein bisschen beruhigt. Lieber wäre mir Finnick, doch den hat Cece ans andere Ende der Sitzreihe verfrachtet. Ob bewusst oder nicht kann ich nicht sagen. Vielleicht will er es so? Seit er heute früh wieder im Trainingscenter aufgetaucht ist, haben wir kein Wort miteinander gewechselt. 

Selbst jetzt sieht er nicht zu mir herüber, sondern plaudert mit Beetee, der neben ihm sitzt. Seine Haare glänzen bronzen in der Sonne, als er lachend den Kopf in den Nacken wirft, und ich fühle einen Stich in meinem Magen. Liegt es an Titania Creed? Der Gedanke kommt unvorbereitet.  Schließlich ist sie seine neuste Verpflichtung. Ich schelte mich sofort für diese Überlegung. 

Nein, rede ich mir gut zu, du kennst ihn besser. Es ist nur eine Rolle, die er spielt – spielen muss. Doch der Zweifel nagt weiter im Herz. Warum nur hat er dich heute nicht einmal angesehen? So unmittelbar habe die Reihen an Liebschaften nie zuvor gesehen und es fällt mir schwer, die ungewollten Bilder zu vergessen.
Egoistischerweise wünschte ich, dass er von Cece gefordert hätte neben mir zu sitzen, damit er meine die Hand hält, anstelle von Floogs. Der versucht zumindest sein Bestes, indem er und Amber mich auf die verrücktesten Outfits der Zuschauer um uns herum aufmerksam machen. Dankbar lächle ich ihnen zu.

Auf einer Bühne unterhalb der Leinwand beziehen mittlerweile Caesar Flickerman und Claudius Templesmith Stellung. Ausnahmsweise kommentieren sie nicht aus dem Studio, sondern unter freiem Himmel. Rechts und links davon werden in Echtzeit die Wettquoten und Vitalfunktionen der Tribute angezeigt. Hinter Edys Namen sehe ich, wie sein Puls rast. Damit ist er nicht alleine, selbst die Karrieros sind unruhig. Bei ihnen ist es wahrscheinlich Vorfreude.
„Meine Damen und Herren, es ist soweit!" Caesars verstärkte Stimme schallt über den Platz. „Machen Sie sich bereit, wir fangen jeden Moment an!"
Das Publikum bricht in Jubelschreie aus.

Grinsend nimmt das Moderatorenduo den Applaus auf.
Ein Angestellter des Fernsehsenders gibt uns ein Handzeichen, dann werden die Kameras eingeschaltet und wir sind live.
„Guten Morgen Panem", brüllt Caesar, „ich heiße Sie herzlich willkommen zur Eröffnungszeremonie der 74. alljährlichen Hungerspiele! Wieder ist ein Jahr um und das spannendste Event des Jahres steht an! Von heute an wird sich das Schicksal unserer 24 Tribute entscheiden. Wer wird leben, wer sterben?" 

Die Zuschauer aus dem Kapitol wedeln wie wild mit ihren Fähnchen, auf denen die Siegel ihres favorisierten Distrikts prangen. Einige haben sogar Plakate mit den Gesichtern ihrer Lieblinge und Sprüchen wie „Möge das Glück stets mit Distrikt eins sein" oder „Katniss und Peeta für immer" angefertigt.
Ich zähle erstaunlich viele Fans der beiden Tribute aus Zwölf. Auf den Schultern eines großgewachsenen Mannes sitzt sogar ein Mädchen, keine zehn Jahre alt, das ein offenbar selbstgemachtes Flammenkleid trägt.
Aber es gibt auch Unterstützung für Cordelia und Edy. Roans lächerliche Paradenoutfits scheinen einigen im Kapitol so gut gefallen zu haben, dass sie die Kronen unserer Tribute nachgebastelt haben. Mich beschleicht das Gefühl, dass sie alle nur zum Spaß und Verkleiden hergekommen sind. Ob überhaupt einer von ihnen realisiert, dass in wenigen Minuten die Leben von ein paar Kindern für immer beendet werden?

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt