Heute ist ein perfekter Tag. Die Sonne strahlt auf das Meer hinab und bricht sich glitzernd auf den Wellenkronen. Erste Vogelschwärme ziehen über den wolkenlosen Himmel, kleine Einsiedlerkrebse huschen zu meinen Füßen durch den Sand und der Wind trägt das Versprechen von Frühling mit sich. Vor lauter Glück könnte ich die ganze Welt umarmen.
Warum eigentlich nicht? Ich bin schließlich alleine! Lachend reiße ich die Arme empor, als die eiskalte Brandung meine Zehen streift. Ein Schauer jagt mir den Rücken hinab und ich drehe das Gesicht zur Sonne, um es zum Ausgleich von ihren Strahlen kitzeln zu lassen.
So lebendig habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. In diesem Augenblick scheint der ganze Winter nur ein weit entfernter, böser Traum zu sein. Dabei hat er kaum geendet. Doch von der Bucht auf Emerald Isle aus kann man die Schäden am Hafen nicht erkennen, genauso wenig wie die Galgen, die Toten oder die neuen Patrouillen der Friedenswächter. Alles, was sich vor mir erstreckt, ist das endlose Meer – und ganz in der Ferne die Grenztürme.
Ich muss mich schon anstrengen und die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, welcher von ihnen es ist, auf dem vor drei Tagen ein Sprengsatz explodiert ist. Das Kapitol hat in Rekordzeit aufgeräumt, sodass nur noch die geschwärzte Außenwand von dem Anschlag zeugt. Dieses Mal konnten sie niemanden hängen, denn das explosive Gemisch hat auch den Täter das Leben gekostet. Heißt es zumindest.
Mit mir redet Finnick nur zögerlich über diese Dinge, als habe er Angst vor der Wirkung der Worte. Aber ich habe öfter mitbekommen, wie er und Amber sich ausgetauscht haben. Überhaupt reden sie ziemlich häufig miteinander, wenn sie denken, dass ich schlafe oder beschäftigt bin. Erst neulich habe ich die Beete für das Frühjahr vorbereitet, während die beiden in gedrückter Stimme über irgendeinen Rob und dessen Zorn geredet haben.
Ich weiß, dass es an der Zeit wäre, mir Sorgen zu machen. Seit Anfang des Jahres hat Finnick mich so oft wie nie zuvor mit nach Emerald Isle genommen. Eigentlich haben wir immer den April abgewartet, bevor er sich an die Überquerung der Meerenge getraut hat. Doch all diese Grenzen und Regeln existieren nicht länger. Es ist schon das zweite Mal diese Woche, dass ich die Zehen in den weichen Sand bohre, bis ich meine Füße in dem eiskalten Meerwasser nicht mehr spüre.
Nichts ist in Ordnung, aber wenn ich hier stehe, kommt es mir so vor. Mit dem Wind im Haar fliegen die Sorgen einfach davon. Lieber sammle ich Muscheln, anstatt über das nachzudenken, was ich – noch dazu alleine – nicht ändern kann. Immerhin verfolge ich ein ehrgeiziges Großprojekt: Aus mehreren alten Netzen, Ästen, Schnüren und unzähligen Muschelschalen knüpfe ich ein großes Mobile, von dessen Verästelungen später Nachbildungen lokaler Fabelwesen wie Meerjungfrauen und echten Meereslebewesen hängen sollen.
Jeden Abend, wenn ich mit Finnick zusammensitze, arbeite ich daran. Er liest mir aus den alten Büchern vor, im Kamin knistert ein Feuer und ich bastle kleine Figuren. Egal was draußen passiert, das sind die Momente, die ich für immer in meiner Seele bewahren möchte. Manchmal kann ich sogar fast glauben, dass wir eine ganz normale Familie sind.
Hin und wieder ertappe ich mich gar bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn wir ein Kind hätten. Meist sind es nur wenige Sekunden, in denen ich einen Knoten zurechtziehe – und plötzlich taucht das Bild auf, wie eines Tages ein winziges Baby unter dem Mobile liegt und lachend die Fäustchen danach ausstreckt. Die Vorstellung durchzuckt mich wie eine statische Entladung – zu schnell fort, um sie zu begreifen, und was bleibt, ist ein eigenartiges Kribbeln im ganzen Körper.
Früher, vor den Hungerspielen, habe ich auch das ein oder andere Mal über Kinder – meine Kinder – nachgedacht. Natürlich, denn es schien so klar wie das Wasser in den Lagunen hier auf Emerald Isle, dass ich eines Tages David, meinen besten Freund, heiraten würde. Und wenn Mann und Frau in Distrikt Vier sich trauen lassen, bekommen sie Nachwuchs. Dafür sorgt das Kapitol schon.
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Meeressturm | Annie Cresta
FanfictionDie Hungerspiele zu gewinnen ist erst der Anfang. Das weiß niemand besser als Annie Cresta, in ganz Panem nur ‚die Verrückte' genannt. Geplagt von den Geistern der Vergangenheit versteckt sie sich an der Seite von Finnick Odair vor der Welt, in der...