52 | Alles wendet sich - Part II

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Präsident Snows Palast hat sich seit Rivens Siegertour kein Bisschen verändert. Schwere Kronleuchter unter der Decke, buntes Publikum und unzählige Speisen auf dem Büffet. Alles erscheint wie damals, selbst das Kleid, was Roan mir zugesteht, ist wieder unangenehm figurbetont. Tiefgrüner Satin fließt um meinen Körper, gehalten von einem metallenen Halsreifen, der sich wie eine Schlange vom Nacken herab windet und auf Höhe der Schulter in den Stoff übergeht. Ich hasse es mit jeder Faser des Seins.

Das einzig Neue ist die Empore mit Sitzplätzen für uns Mentoren und Snow, direkt gegenüber der großen Leinwand, die von der Galerie im dritten Stock bis zum Boden herabhängt. Darauf läuft – wie könnte es anders sein – die Übertragung der Hungerspiele. Mir fällt es, genauso wie den vielen Gästen, schwer, die Augen von den überlebensgroßen Bildern abzuwenden.

Momentan gibt es immerhin keinen Kampf. Die meisten Tribute halten sich bedeckt, in der Hoffnung, diesen Tag irgendwie zu überstehen. Sie ahnen ja nicht, welcher Sturm sich hier im Kapitol zusammenbraut. Nur Katniss ist mit dem Bogen im Anschlag auf der Suche nach Rue, die nicht wie verabredet in ihr gemeinsames Lager zurückgekehrt ist.

Als Zuschauerin weiß ich natürlich längst, was ihre kleine Verbündete davon abgehalten hat. Eine geschickt platzierte Falle der Spielmacher, einen einzigen Fehltritt und die Invasion hunderter knallbunter Schlangen später, ist Rue zwar unverletzt, musste dafür aber die Nacht in einer windigen Baumkrone verbringen, während die Vipern auf den niederen Ästen nach ihr schnappten. Die Karrieros haben ihr Lager auf der Jagd mehrfach umkreist und bloß durch reinen Zufall nicht entdeckt.

Mit klopfendem Herzen, wie wir dank der Einblendung von Rues Puls wissen, pirscht sie nun durch den dichten Wald, immer auf der Hut vor weiteren schuppigen Leibern, die aus dem Blattwerk herabfallen könnten. Offenbar hat ihr diese Begegnung mit den Mutationen den Weg durch die Bäume ordentlich verleidet.

Aber selbst wenn keine Schlangen mehr über sie herfallen – für uns Zuschauer ist längst ersichtlich, dass dieser Weg eine Sackgasse ist; geschickt von den Spielmachern eingefädelt. Am Ende ihrer momentanen Route wartet Marvel mit seinen improvisierten Fallen und dem Wunsch nach Rache. Jetzt stellt sich nur die Frage, wer ihn zuerst erreicht – Katniss oder Rue.

In diesem Moment landet ein schwarz-weiß gefiederter Spotttölpel auf einem Ast in Rues Nähe. Der Hoffnungsschimmer in ihren dunklen Augen ist nicht zu übersehen. Sie singt ihre kleine Melodie, das Erkennungszeichen dafür, dass es ihr gut geht. Ganz wie seine unheimlichen Verwandten im Labor greift der Vogel die Töne auf und trägt sie auf ausgebreiteten Schwingen hoch in den Himmel, zu seinen Artgenossen, die sogleich in die Hoffnungsmelodie einstimmen. Vielleicht wird die Botschaft Katniss rechtzeitig erreichen.

Während ich diese Szenen verfolge, treibt es meine Gedanken zusehends fort von den Spielen, in die unruhigen Tiefen des eigenen Verstandes. Bin ich bloß ein Experiment in Dr. Gauls Laboren? Nutzt das Kapitol diese Angst aus, damit ich endgültig eine willenlose Marionette werde? Will Dr. Gaul mich möglicherweise nur über die Klippen des Wahnsinns treiben und aus der Ferne beobachten, wie ich von Schuldgefühlen und Panik innerlich zerfressen werde, damit sie noch mehr Medikamente an mir ausprobieren kann – oder ... Schlimmeres?

Zum Glück sehe ich ihre pinken Haare nirgends in der Menge, nur zahlreiche andere Damen mit derselben pastellenen Haarfarbe. Ich bin unsicher, wie ich reagieren würde, wenn sie jetzt hier stünde. Sie hat mir nie persönlich etwas getan. Das war immer Tia mit den Stromschlägen. Im Gegenteil, gestern hat Dr. Gaul mir die Hand gereicht, als die Wellen der Angst über mir zusammenschlugen. Für einen winzigen Splittermoment habe ich wirklich geglaubt, dass sie die Furcht vielleicht doch versteht.

Ein lautes Geräusch aus der Arena lässt mich schließlich zusammenschrecken, aber es ist bloß ein trockener Ast, der unter Rues Füßen bricht. Floogs wirft mir einen fragenden Blick zu, woraufhin ich nur den Kopf schüttle. Momentan bin ich nicht bereit, diese Sorgen mit dem Rest meiner Familie zu teilen. Sollen sie nur glauben, dass es bloß die Spiele sind. Manchmal kann der Ruf der „Verrückten" auch ein Schutzschild sein.

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt