68 | Feuer und Wasser - Part I

102 10 11
                                    

Es sind noch genau 75 Tage bis zu den Spielen, als ich morgens aufwache und aus den Stürmen plötzlich strahlender Sommer geworden ist. Anstatt des heulenden Windes, der in den letzten Wochen die Fenster meines Hauses zum Klappern gebracht hat, höre ich Vogelgezwitscher. Überrascht hebe ich ein Augenlid – und werde direkt von Sonnenlicht geblendet. Es ist nur ein schmaler Streifen, der durch die Vorhänge auf mein Bett fällt, aber das reicht. Mein Herz hüpft.

Besseres Wetter, das heißt ... Ich sehe auf das nackte Laken neben mir. Im Morgenlicht erscheint es golden, fast so wie Finnicks Haar manchmal. Doch er ist natürlich nicht mehr da. So wie immer, wenn ich wach werde. Außer Mittwochs und jeden zweiten Samstag, da pausiert das Arenatraining. Seufzend strecke ich eine Hand aus und streichle über die Leere. Kalt – Finnick ist bestimmt seit drei Stunden fort.
Was er wohl gerade mit den anderen macht? Ich habe bisher nie danach gefragt, wie das Training läuft. Oder was sie überhaupt üben. Allen Versprechungen und Hoffnungen zum Trotz hat ein Teil von mir Angst, was dieses Wissen in meinem Kopf anrichten könnte. Ich brauche keinen neuen Strudel aus dunklen Gedanken, der mich in unendliche Tiefen zieht.

Einen Moment lang verharre ich, die Wange auf meine Schulter gebettet, ohne den Blick von Finnicks Bettseite zu lösen. Dann werfe ich die Bettdecke zurück und springe auf. Der Lichtstreif hat nicht zu viel versprochen. Sobald ich die Vorhänge aufreiße, sehe ich den Sommertag in all seiner Pracht. Die Winde der vorigen Wochen haben nichts außer einem strahlend blauen Himmel hinterlassen. Unten im Garten tropfen die letzten Regentropfen von den Pflanzen, aber jene Blüten, die dem harschen Wetter getrotzt haben, strahlen dafür umso heller.

Ich fliege förmlich die Treppe hinunter. Noch im Laufen schlüpfe ich in ein Leinenkleid, ehe ich barfuß hinausstürme. Ein paar kleine Spatzen flüchten verschreckt aus dem großen Flieder und ich halte inne, um ihnen nachzusehen, wie sie gen Hafen fliegen. Ob sie als Nächstes bei der Trainingshalle landen werden?
Meine Schultern sinken herab. Genau wie die Vögel am Himmel verblassen, entschwindet auch meine Freude. Egal wie schön der Tag ist – ich bin alleine. Selbst Isla ist beim Training. Und sie alle werden erst wieder zurückkommen, wenn die Sonne sich dem Horizont nähert.

Was soll ich nur mit dem Tag anfangen? Die letzten Wochen habe ich größtenteils damit verbracht, in alten Büchern zu lesen oder auf dem Sofa zu basteln. Zu meinem Mobile haben sich ein geflochtenes Körbchen, in dem ein Baby schlafen könnte, und eine Muschelrassel gesellt.
Aber vor allem habe ich geschlafen. Wenn es immer nur dunkel ist und der Regen an das Fenster klopft, ist es einfach, die Realität gegen verschiedene Traumwelten zu tauschen. Zumindest war es das, bis Finnick abends zurückgekommen ist. Dann haben wir stundenlang geredet, Regenspaziergänge unternommen oder bloß gekuschelt und ich war hellwach – und abgelenkt. Was also jetzt? Mit dem 75. Tag, bis uns das alles genommen wird?

Die Möglichkeiten überwältigen mich schier. Der Drang, mir die Decke wieder über den Kopf zu ziehen, wächst. Wäre da nicht das schlechte Gewissen, das ganz leise in meinem Hinterkopf flüstert. Immerhin habe ich doch nicht nur Finnick versprochen, die letzten Tage vor dem Jubeljubiläum zu leben wie die Zukunft. Das war auch ein Versprechen an mich. Und jetzt will ich die Zeit einfach verstreichen lassen, bis er zurück ist?
Nein. Ich schüttle den Kopf, dass meine langen Haare fliegen. Das ist nicht die Zukunft, die ich wollen würde. Hin und wieder tut die Pause gut, doch je wärmer die Sonne nun auf meiner Haut wird, desto mehr wächst auch meine Entschlossenheit. Also schnappe ich mir ein Paar Gummistiefel sowie das Gartenwerkzeug und falle über den grünen Dschungel her, den ich die letzten Wochen so sträflich ignoriert habe.

Normalerweise war Isla immer da, um mir gute Ratschläge für die Pflanzenpflege zu geben, doch zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass ich inzwischen ganz instinktiv weiß, was zu tun ist. Es fühlt sich sogar richtig gut an, die bloßen Hände in der Erde zu versenken und Steinchen aus den Beeten zu ziehen. Zum ersten Mal seit langem ist mein Kopf ganz leicht, anstatt mit bleischweren Gedanken gefüllt.
Summend richte ich ein Pflänzchen, das vom vielen Sturm abgeknickt ist. »Ach je, du armes Ding«, murmle ich und streiche über die weichen Blätter. »Lass mich dir helf-«
Weiter komme ich nicht. Aus heiterem Himmel unterbricht mich ein tiefes Brummen. Als würde ein Schwarm wütender Jägerwespen nahen – Ratsch. Ich starre auf den abgetrennten Pflanzentrieb in meiner Hand. »Oh nein, nein!«

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 26 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt