16 | Kristallblut - Part II

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Das Erste, was mir auffällt, als wir in den prunkvollen Saal im Herzen der Präsidentenvilla geführt werden, sind die überdimensionalen Kronleuchter, die von der hohen Decke herab hängen. Unzählige Kristallsplitter brechen das Licht der Kerzen und tauchen die bunte Gästeschar in scharfkantiges Licht, gezackt wie Messer.
Ich spüre einen leichten Schauer meine Wirbelsäule entlang laufen. Die Lichter sehen aus, als wären sie bereit einen aufzuspießen. Nur mit Mühe kann ich meinen Blick lösen. Das nächste was meinen Blick einfängt, sind die Berge an Essen, die sich auf langen Tafeln vor uns auftürmen.

Ein Überfluss an erlesensten Speisen, die man so nur im Kapitol serviert bekommt. Doch das Essen hat längst seinen Charme verloren, nachdem wir zwölf Tage lang jeden Abend ein Festessen hatten. Am Anfang kam es mir noch wie der Himmel auf Erden vor, doch mittlerweile schmeckt alles gleich. Zu fettig, zu künstlich. Inzwischen sehne ich mich einfach nur nach einem Bissen frischen Fisches, doch alles was ich hier sehen kann sind Garnelen, die längst nicht mehr fangfrisch sind. Stattdessen sind sie in Öl eingelegt, um den Geschmack zu verschleiern. Das halten sie im Kapitol nur für eine Delikatesse, weil sie noch nie einen frischen Fisch hatten, immer nur Eingefrorenes, denke ich.

Den anderen Mentoren scheint es ähnlich zu gehen. Auch sie machen um die Garnelen einen großen Bogen. Nur Cece schlägt mit Wonne zu, sich offensichtlich nicht bewusst, dass wir anderen die Garnelen verschmähen.
Ich begnüge mich mit ein wenig Reis und Hühnchen, da ich sowieso keinen großen Appetit habe. Wir werden ohnehin immer wieder unterbrochen von begeisterten Leuten aus dem Kapitol, die unbedingt Riven vorgestellt werden wollen, oder einen Plausch mit den Mentoren halten wollen. 

Mir kommt jetzt meine Rolle als „die Verrückte", wie sie mich nennen, zu pass, denn die meisten von ihnen ignorieren mich glatt, auch wenn mich hin und wieder neugierige Blicke streifen. Sie wollen lieber Finnick hofieren, der seine Rolle heute Abend mal wieder voll ausfüllt.
Ich kann ihn dabei beobachten wie er mit Leuten jeglichen Alters flirtet. In meinem Magen regt sich ein eigenartiges Gefühl und ich wende mich lieber ab. Es ist die eine Sache, daheim in Distrikt vier zu sein und nur zu ahnen, was jedes Mal im Kapitol passiert, doch eine andere jetzt hier zu stehen und es einfach ertragen zu müssen. Am liebsten würde ich es den ganzen bunten Kapitolvögeln gleich tun und aufs Klo stürmen, um mich zu übergeben. Nicht, weil ich etwa von dem klaren Abführmittel getrunken habe so wie sie, sondern um meinen Magen endlich zum Schweigen zu bringen. 

Ich drücke einem vorbei eilenden Avox meinen halbvollen Teller in die Hand, da ich keinen Bissen mehr runter bringe. Stattdessen lasse ich lieber den Blick über die Menge schweifen. Man könnte sich glatt ein Spielchen daraus machen, die wildesten Kostüme in der Menge zu suchen. Ich habe wirklich vergessen wie verrückt es hier ist. Ob ich wohl auch Lust auf ein paar Tierohren hätte, wäre ich im Kapitol geboren? Gerade sinniere ich noch darüber nach, welches Tier zu mir passen würde, als eine rundliche Frau an mich herantritt.
Sie trägt ein überraschend schlichtes weinrotes Kleid, nur verziert mit einer goldenen Stickerei am Ausschnitt. Kleine Fische und Dreizacke. Nett. Ihr rabenschwarzes Haar ist zu einem schlichten Knoten geschlungen und außer einigen goldenen Strähnen und sehr stark aufgetragenem Eyeliner kann ich nichts ungewöhnliches an ihr entdecken.

„Sie sind Annie Cresta, nicht wahr?", fragt sie mich mit fröhlicher Stimme.
Überrascht starre ich sie an. Man hat mich also nicht vergessen. Ich nicke höflich.
„Freut mich!", sie streckt mir eine mit Ringen geschmückte Hand entgegen, „ich bin Titania Creed."
Ich schüttle ihre Hand und bin erstaunt, wie kräftig ihr Händedruck ist. Als ich nichts weiter sage fügt sie hinzu: „Erste Sekretärin der Innenministerin."
Unsicher, was ich mit dieser Information anfangen soll, nicke ich noch einmal und schenke ihr mein bestes Höflichkeitslächeln. Cece wäre stolz auf mich. 

Mein Schweigen scheint die kleine Frau ohnehin nicht zu beirren, denn sie spricht einfach weiter.„Aber für Sie bin ich einfach Tita!" Sie lächelt mich verschwörerisch an, als wären wir beste Freundinnen.
„Dann können Sie mich Annie nennen", sage ich der Höflichkeit halber. Das scheint Titania zu entzücken, denn sie schenkt mir ein noch breiteres Lächeln.
„Ganz schön viel Trubel heute Abend, nicht wahr?" Sie wirft einen Blick in Richtung Riven, die zusammen mit Amber und Finnick von einer großen Traube Bewunderer umgeben ist. „Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, eure entzückende Siegerin kennen zu lernen." Sie seufzt gespielt dramatisch, doch ihr Blick haftet sich jetzt an Finnick, der gerade irgendeiner Dame im zitronengelben Ballonkleid etwas zuflüstert. Täusche ich mich, oder gleitet ein düsterer Schatten über das Gesicht von Titania Creed?

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt