43 | Aufopferung - Part I

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Die Anspannung steckt mir noch in den Gliedern, als ich auf den Balkon unseres Appartements trete. Ich lege meine zittrigen Hände auf das Geländer und sehe in die Ferne, auf den blauen Himmel, der sich fröhlich über das Kapitol spannt. Der Tag nimmt seinen Lauf und die vielzähligen Stimmen der Leute unten auf dem Korso dringen zu mir herauf.

Ich versuche, loszulassen. Die Augen zu schließen und meinen Atem zu kontrollieren. Aber die Angst vor der Strafe hat sich festgefressen. Furcht gegenüber dem, was Cordelia passieren könnte, mischt sich mit der Furcht vor dem Schmerz, der mir droht, wenn ich die Kontrolle verliere. Tias Blitze warten nur darauf, loszuschießen. Der Geschmack von Gummi erweckt in mir den Drang, mich zu übergeben.

Hinter mir öffnet sich die Tür und ich höre leise Schritte näher kommen. „Wie fühlst du dich?", fragt Finnick.
Mein erster Impuls ist es, „gut" zu sagen. Doch diese Lüge hat er nicht verdient. „Ich weiß es nicht", entgegne ich stattdessen. „Gut genug für das Kapitol."
Es dauert seine Zeit, bis er eine Antwort findet. Die Angst in seiner Stimme ist kaum verborgen, als er fragt: „Und im Vergleich zu vorher?"

Darauf weiß ich keine Erwiderung, die das Kapitol nicht gegen mich aufbringt, also schüttle ich nur den Kopf. Die allgegenwärtigen Albträume haben eine neue Lage des Grauens erhalten, die ich mir vorher nicht mal hätte ausmalen können. Es nicht auszusprechen, fühlt sich an wie ein Draht, der sich um meinen Hals schnürt. Flach atmend greife ich mir an die Kehle und vergewissere mich, dass da nichts ist, was mir die Luft nimmt. Für den Moment hilft nur vergessen.

„Es tut mir leid", würge ich hervor, obwohl mir selbst nicht ganz klar ist, was genau ich meine.
„Sag das nicht." Finnick berührt seicht die Stelle zwischen meinen Schulterblättern. „Bitte."
Ich wende mich vom Kapitol, das uns so hasst, ab. Sein Anblick lässt mir das Herz schrumpfen. Wie er so dasteht, das Gesicht voll geteiltem Schmerz, wächst der Selbsthass. Ohne meine Existenz hätte er eine Sorge weniger. Doch selbstsüchtig, wie ich bin, lasse ich ihn trotzdem nicht gehen.

„Ich habe Edy gesehen", bricht es aus mir hervor. Ich erinnere mich an den Wolf, der seine Augen hatte. Aber das kann ich unmöglich erzählen. Das Kapitol darf nicht wissen, was ich mitbekommen habe.
„Immer wieder das Ende. Und Pon. Ich wusste nicht, wie es für dich war." Ich presse die flache Hand auf das Brustbein und fühle den rasenden Herzschlag unter meinen Fingerspitzen. Nicht weinen, befehle ich mir eisern. „Ich bin jetzt wohl – geheilt."

Bei diesen Worten weiten sich Finnicks Augen. Er versteht auch ohne Erklärung, was sie mir angetan haben. Zumindest einen Teil dessen. „Haben sie das gesagt?"
„Ja. Der Auftritt bei Caesar Flickerman war der letzte Test."
Ich sehe in seinen Augen, wie sich ein Sturm zusammenbraut. Seine freie Hand ballt sich zur Faust. „Noch einmal werde ich das nicht geschehen lassen." Jedes Wort ist ein Donnerschlag und er zittert vor unterdrückter Energie.
Schnell schüttle ich den Kopf. „Alles ist gut. Ich werde nicht noch einmal ... die Beherrschung verlieren." Wegen mir soll er nicht in den Fokus des Kapitols geraten. Nicht mehr als ohnehin schon.

Er sagt nichts, sondern macht einen Schritt nach vorne und zieht mich in seine Arme. Sehnsucht gewinnt die Oberhand, kaum, dass ich die ferne Erinnerung an Distrikt vier an ihm rieche, und ich schmiege den Kopf an seine Brust.
„Snow hat mich deswegen vorgeladen", flüstert er mir ins Ohr. Mein Herzschlag stolpert. Was?
„Er weiß alles. Aber ich habe meinen Preis bezahlt. Und ich werde es wieder tun."
Plötzlich zieht sich der Draht um meinen Hals erneut enger. „Nein, das darf nicht ...", hektisch winde ich mich aus seinen Armen, „Nein Fin! Nein!"

Ich trete einen Schritt zurück. „Nein", sage ich noch einmal, zu mir selbst. „Das ist es nicht wert." Heiß brennen mir die Tränen in den Augen und nur einem letzten Rest an Beherrschung ist es zu verdanken, dass sie nicht fallen.
„Sag du mir nicht, was es wert ist. Denn mir ist es alles wert." Er sieht direkt in meine Augen. „Du bist mir alles wert."

Meeressturm | Annie CrestaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt