Kapitel 4

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Gabriel musste mächtig den Verstand verloren haben. Zumindest, als er sich dazu entschieden hatte, mir dieses Gebäude zu überlassen. Er war sich wohl nicht im Klaren darüber gewesen, dass ich es niemals schaffen würde, so eine große Fläche aufgeräumt zu halten. Eigentlich hätte er dies wissen müssen, er hatte mein altes kleines Apartment im Himmel nur zu gut gekannt. Er war oft bei mir gewesen, irgendwann hatte ich gelernt mit seinen irritierten Blicken umzugehen, wenn er sie durch die Räume gleiten hatte lassen. 

Ordnung war noch nie mein Ding gewesen. Aber hier, hier würde sich das ändern. Jedenfalls würde ich es versuchen. 

Als ich über die Schwelle ging und die Tür leise hinter mir schloss, atmete ich genüsslich den Duft von Rauch und Leder ein. Ich stand in einem breiten, relativ kurzen Gang, der in einem weitläufigen Salon endete. Die Wände waren in einem hellen blau gestrichen, schwere Vorhänge hielten das Abendlicht vor den Fenstern fest. Ein kleines Feuer knisterte im Kamin, der sehr zentral im Raum platziert war. Um ihn herum waren dunkelbraune Ledersessel und Sofas aufgereiht. In einem von ihnen saß eine schmale Gestalt. Sie hatte mir den Rücken zugewandt, doch an dem Zucken ihres Genicks erkannte ich, dass sie wusste, dass ich hier war. Langes blondes Haar fiel ihr glatt über die Schultern, ein geblümtes Kleis bedeckte ihre langen Beine.

"Rose?"

Ich atmete scharf ein. Wenn dieses Mädchen meinen Namen kannte, konnte sie nicht sonderlich gefährlich sein. Aber woher kannte sie ihn?

"Verzeihen sie mir, aber ich kenne sie nicht?"

Sie verstand meine Andeutung und wand sich zu mir um. Als ich ihre Gesichtszüge - beleuchtet von den züngelten Flammen - zu sehen bekam, stockte mir der Atem. Sie war unverschämt schön. Ihre wachen, blauen Augen musterten mich ruhig, als sich ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen bildete, bei dem sie eine perfekte Zahnreihe entblößte. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn, eine Geste, die so majestätisch aussah, dass man meinen könnte, sie wäre nicht real. 

"Ich vergaß. Ich denke du möchtest meinen Namen hören?"

Ihre Stimme war höher als meine, schmeichelte ihr jedoch wahnsinnig. 

"Es würde mich freuen."

"Anabelle. Ich würde mich aber durchaus freuen, wenn wir diese dämlichen Formalitäten seinlassen könnten und du mich Ana nennst."

Es verwunderte mich, wie sie mir mit einem Satz um so vieles sympathischer wurde. 

"Sehr gerne. Ich dachte eigentlich, ich würde diesen Mist hier unten loswerden..."

Kaum hatte ich meinen Satz beendet, riss ich die Hand nach oben und bedeckte vor Schock meine Lippen. Die Menschen durften unter keine Umständen wissen, dass es uns gab, und doch hatte ich gerade eine Andeutung darauf ausposaunt, ohne überhaupt zu wissen, wer - oder besonders was - Ana war. 

"Alles gut...", beruhigte sie mich, noch immer lächelnd. "Ich bin wie du." 

Ich atmete erleichtert aus. Ich war wahrscheinlich noch keine drei Stunden hier, es wäre wirklich fatal gewesen, direkt einen Fehler zu machen. Okay, sie war nur eine Person, es wäre nicht all zu schwer gewesen, ihre Erinnerung wieder auszuradieren. Wurden es dann mal mehr als fünf, wurde es problematisch. Für solche Aktionen war ich nicht alt genug. Mir fehlte die Kraft.

"Komm doch näher, ich verspreche, ich beiße nicht", sagte sie. 

"Gerne."

"Deine Sachen sind schon hier. Gabriels Leute haben sie vorhin vorbeigebracht."

Hätten sie mich nicht einfach mitnehmen können? Das hätte mir wenigstens die Schmerzen in den Füßen erspart. 

"Soll ich dir dein Zimmer zeigen?"

"Sehr gern!", schmunzelte sie, als sie mich am Handgelenk eine Treppe hinaufzog.

Ich konnte es kaum erwarten, mein Bett wiederzusehen. Es erinnerte mich an den Himmel. Auch wenn ich ihn aus gutem Grund verlassen hatte, war er fünfzehn Jahre lang mein Zuhause gewesen. 

Nachdem meine Eltern gestorben waren. 

Ein Gedanke, bei dem mir jedes Mal das Herz schmerzte. Ich war damals erst drei Jahre alt  gewesen. Mir war kaum Erinnerung an sie geblieben. Flüchtige Bilder taten sich vor meinem inneren Auge auf, ich musste mir ein Schluchzen verkneifen. 

Meine Mutter mit ihren dunklen Augen, warm und herzlich. Man hatte mir sagen lassen, dass ich ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah. Sie hatte dasselbe dunkle Haar gehabt, wie ich, dieselben Wellen, von denen ich mir immernoch erhoffte, sie würden sich intensiver locken. 

Mein Bruder. Er war viel älter gewesen als ich. Ganze dreizehn Jahre. Er wäre heute schon fast dreißig. An ihn konnte ich mich noch am Besten erinnern. Seine blauen Augen, die er definitiv von meinem Vater geerbt haben musste, das dunkle Haar von meiner Mutter, die Locken meines Vaters. Er musste bildhübsch gewesen sein. 

Mein Vater war ein wahrer Herzensmensch gewesen. Mir kamen jene Abende in den Sinn, wo ich auf seinem Oberschenkel gesessen hatte, auf seinem Lieblingssessel, den es mittlerweile nicht mehr gab. Ich hatte alles versucht, doch man hatte ihn mir nicht geben wollen. Er sei Teil meines Erbes, der mir nicht zustünde. Je öfter ich mir diesen Satz ins Gedächtnis rief, desto weniger Sinn machte er. 

"Hier ist es."

Anas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Wir standen vor einer großen weißen Türe mit einer ausgeschmückten Klinke. Sie drückte sie herunter und eröffnete mir einen wahnsinnigen Anblick. Der Raum vor mir war riesig. In seiner Mitte stand mein geliebtes Himmelbett in seiner vollen Pracht. Die schwarzen Vorhänge waren an den anthrazitfarbenen Bettpfosten mit  Kordeln aus feinen silbernen Fäden zusammengebunden, die perfekt zur Bettwäsche passten. Ungestüm stürmte ich darauf zu und ließ mich auf die knarzende Matratze fallen. 

Wie hatte ich das vermisst.

Meine Fingerspitzen fuhren über die fein gestickten Blumen auf meinem Kissen, während ich befreit aufseufzte. Mein Blick wanderte in dem Zimmer umher, in dem ich zukünftig leben würde. Die Wände waren hellgrau gestrichen, verdammt, dass gefiel mir! Als könnte Ana meine Gedanken lesen, murmelte sie leise:

"Sie meinten, du stündest nicht so auf Farbe, aber ich sollte dir deine dunkle Ader nicht durchgehen lassen..."

Sie grinste.

"Also dachte ich, Lichtgrau passt ganz gut?"

"Volltreffer!", jubelte ich leise. Endlich war ich das widerliche rosa losgeworden, mit dem ich mich vorher hatte abgeben müssen. Es hatte mich in den Wahnsinn getrieben. Gabriel hatte mich immer damit aufgezogen.

"Es steht deiner schlechten Laune", hatte er gesagt, als eines Abends dort oben festgesessen war, als Strafe für meine Bitte nach einer dunkleren Farbe. Im Himmel war solches Verhalten garnicht gern gesehen gewesen. Schon garnicht, bei einem Mitglied der Königsfamilie. Dabei konnte ich garnichts dafür, dass mich diese Welten viel eher anzogen, als jene, in denen Feen und Einhörner lebten. 

Ich sah mich selbst in einem großen Spiegel an der Wand neben meinem Kleiderschrank, der dieselbe Farbe hatte, wie mein Bett. Ich liebte es, dass die feine Holzmaserung trotz der Farbe deutlich zu sehen war, es verlieh ihm einen edlen Touch. 

Von der hohen Decke hing ein gewaltiger Kronleuchter herunter. Die Tatsache, dass er ebenfalls dunkelgrau war, zauberte mir ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen. 

"Deine Sachen musst du allerdings selbst ausräumen..."

Ana grinste mich frech an. Wir würden uns prächtig verstehen, dass spürte ich, als ich ihren Gesichtsausdruck erwiderte und ein Kissen nach ihr warf. Begleitet von einem hellen Kichern fing sie es auf und warf es mit solch einer Wucht zurück, dass es mich umhaute, als es mich traf. Ein herzhaftes Lachen entfuhr meiner Kehle. 

Wir würden uns definitiv verstehen.

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