Prolog

751 34 16
                                    

An einem erstaunlich ruhigen Samstagabend stand ein Mann in einem langen schweren Mantel vor einem Haus in einer Straße, die aussah, wie man sich eine typische Straße in England eben vorstellte. Er war nicht mit dem Auto gekommen und hatte auch kein Fahrrad bei sich. Keiner hatte ihn dabei beobachtet, wie er über den breiten Gehweg gegangen war. Er war einfach aufgetaucht, als wäre er den länger werdenden Schatten der Bäume entsprungen.

Der Mann ging zur Tür, hob die Hand und klopfte so laut und bestimmt, dass man meinen könnte, er wolle sie zerschlagen.

Drinnen saß Rose auf dem dunkelgrünen Sessel, den ihr Vater so liebte, und blätterte in einem Buch ihrer Mutter, indem lustige Abbildungen von Menschen zu sehen waren, denen grausame Schandtaten angetan wurden. 

Sie beobachtete ihren großen Bruder durch den schmalen Türspalt der Küchentür. Er schnitt Kartoffeln fürs Abendessen. Er entsprach nicht wirklich dem typischen Bild eines großen Bruders, dass man im Kopf hatte, wenn man an einen großen Bruder dachte. Er ging nicht feiern, wie alle anderen, oder trinken, bis er nicht mehr geradeaus gehen konnte. Mit seinen sechzehn Jahren war er schon sehr selbstständig. Er kochte für sie, half ihr, wenn sie mal wieder nicht an die Keksdose auf dem obersten Küchenregal herankam. Es war gut, dass sie ihn hatte, wenn Mum und Dad mal wieder fort waren. 

Heute jedoch, waren sie beide Zuhause. 

Die Abendsonne versengte das Gras in ihrem Vorgarten, bis es braun und dürr war. Kinder schrien, Vögel sangen, Klimaanlagen ratterten. Alles war wie immer. 

Als es klopfte, war sie in Begriff aufzustürmen und zur Tür zu eilen, wäre Dave ihr nicht in den Weg gesprungen. Ihr großer Bruder packte sie unter den Armen und setzte sie zurück auf den Sessel, ehe er selbst ging, um zu öffnen.

Der Fremde hatte eine tiefe Stimme, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sein Ton war beängstigend stählern, als er nach ihrer Mutter verlangte.

"Mum?"

Es dauerte keine Minute, da hörte sie die Schritte auf der Treppe, die sich näherten. 

"Dave, geh und sieh nach deiner Schwester."

Mum's Stimme zitterte. So hatte Rose sie noch nie erlebt. Doch es war nicht das, was sie beunruhigte. Es war der Ausdruck, der in den klaren blauen Augen ihres Bruders lag, als er den Raum betrat. 

Angst.

Wieder packte er sie und hob sie hoch. Er ließ sich nieder, setzte sie auf seinen Schoß. Sie schmiegte sich an seine warme Brust, noch tiefer in die Decke, die um ihre Schultern lag. Sie lauschten beide den Worten des Mannes, als er weitersprach.

"Wie konntest du es wagen? Sind das deine Kinder?"

Rose konnte spüren, wie schnell das Herz ihres Bruders schlug. Schnell und unregelmäßig.

"Es sind meine Kinder. Meine."

"Weißt du, was du angerichtet hast? Wo ist sie?"

"Wer?"

"Deine Tochter."

"Du bekommst sie nicht. Was willst du von ihr?"

"Ich werde sie mitnehmen, damit sie nicht so wird, wie du."

Sein letztes Wort hatte er ausgesprochen, als wäre ihre Mutter eine Bestie, oder Abschaum. Auf eine sonderbare Art und Weise abfällig. 

"Du bekommst sie nicht."

Die Stimme ihrer Mutter wurde immer brüchiger, als würde sie weinen.

"Dann hole ich sie mir."

Ein metallisches Geräusch drang zu ihnen hindurch. Es folgte ein schrecklich gellender Schrei. Ein Schrei ihrer Mutter.

"Mommy!"

Rose schrie, trat mit ihren pummeligen Kinderbeinen nach ihrem Bruder, der sie mit festem Griff umklammerte und zurückzog. Der Schrei ihrer Mutter verstummte, man konnte ein dumpfes Poltern vernehmen. 

Schritte.

Der Mann stand in ihrem Wohnzimmer, das Gesicht fein besprenkelt mit dunklem Blut. In seiner rechten Hand wand er einen ebenso roten Dolch, mit einem Griff aus Elfenbein.  

"Dave", knurrte er.

Ihr Bruder packte sie noch fester.

"Lass das Mädchen los."

"Nein."

Binnen eines Wimpernschlags erschlaffte der Griff ihres Bruders. Sein Körper sackte in sich zusammen, wie eine Puppe, deren Fäden man losgelassen hatte. Rose schrie. Sie wollte aufspringen und davonrennen, doch sie wusste leider, dass eine Dreijährige keine Chance gegen einen erwachsenen Mann hatte. Er würde sie packten und zerquetschen wie eine Ameise. Und sie würde nichts dagegen tun können.

Sie entdeckte das Messer, dass in der Brust ihres Bruder steckte. Den schwarzen Fleck auf seinem Shirt, der immer größer wurde. Tränen liefen ihre kleinen molligen Wangen hinunter, sie schmeckten salzig auf ihren Lippen.

Der Mann kniete sich nieder, sah sie an, mit Augen, die so schwarz waren, wie das Fell eines Panthers. Er packte ihre Schultern, sodass sie sich nicht wehren konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie wandte ihr Gesicht ab, sie konnte dieses Monster nicht ansehen. 

"Für den Fall, dass du versuchst zu rennen, dein Vater wird dir nicht mehr helfen können. Elender Schänder seiner Art. Er hätte ein Mensch werden sollen. Wie er..."

Er nickte zu ihrem Bruder hinüber, dem jegliche Farbe mit seinem Blut aus dem erstarrten Gesicht gewichen war. Rose kleiner Körper zitterte unaufhaltsam, auch noch, als der Mann sie hochhob, den Mantel zu Boden warf, und das riesige Paar Schwingen entblößte, dass zwischen seinen Schulterblättern mit seiner Haut verwachsen war. Die zarten grauen Federn strichen ihr für einen kurzen Moment über die Wange, als er sie streckte und - noch immer mit ihr im Arm - abhob.

HolyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt