Azriel lag hinter uns auf der Rückbank des Wagens. Jael hatte mir geholfen die Ketten zu lösen und ihn ans Auto zu bringen. Er hatte ihn ohne ein weiteres Kommentar geschultert und davongetragen. Seine Wunden mussten unfassbar schmerzen, denn er sagte nichts, bis auf ein leises Stöhnen, als er auf das Leder gesenkt wurde.
Wir fuhren schon seit einer guten halben Stunde, in der Jael nichts und wieder nichts gesagt hatte. Wir schwiegen und ich hatte nicht vor diese Stille zu brechen. Auch wenn sie mir noch so unangenehm war.
Azriel knurrte hinter mir leise und ich meinte zwei kleine Wörter verstehen zu können.
"bloody hell..."
Ich musste schmunzeln, auch wenn diese Situation ganz und garnicht zum Lachen war. Im Gegenteil. Sie war grausam und ich hatte sie nie erleben wollen.
Ich warf einen kurzen Blick nach links zu Jael, der seine Hände im Leder des Lenkrads festgekrallt hatte. Jene Hände, die noch immer beschmiert waren, mit Blut eines Mannes, der vielleicht unschuldig gewesen war. Ein Mann, der jetzt nicht mehr unter uns weilte.
"Warum hast du ihn getötet?", entwich es mir, bevor ich es hatte zurückhalten können. "Das hättest du nicht tun müssen."
"Findest du?"
"Ich weiß nicht. Ich finde, dass jeder das Leben verdient hat, oder nicht?"
"Nein, sicherlich nicht. Des Lebens würdig zu sein, bedeutet kein anderes Leben zu gefährden. Schau ihn dir an, er hätte sterben können."
Er nickte nach hinten zu Azriel, der wie zur Bestätigung wieder ein leises Ächzen entweichen ließ.
"Aber das heißt nicht, dass du ihn töten musst."
Er sah mich an, mit einem Blick, der mich mit einem Gefühl überrollte, dass ich noch nie zuvor gefühlt hatte. Es war richtig, was er getan hatte. Doch ich konnte mir nicht erklären, warum ich das so empfand.
Er stierte wieder geradeaus und sagte leise, mit einer Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
"Ich bin ein Hunter. Das ist mein Job."
Ich erstarrte in meiner Bewegung.
"Dein Job ist es unschuldige Menschen zu töten?"
Er durchbohrte mich wieder mit dem Blick aus diesen klaren eisigen Augen. In diesem Moment zweifelte ich es nicht an, dass er gefährlich war. Denn das war er. Ich hatte es zuvor nur noch nicht sehen wollen.
"Mein Job ist es, dass Schicksal wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Es war nicht gerecht, dass ihm das angetan wurde, also musste sich jemand für ihn rächen. Ich bin das, was die Menschen Karma nennen. Das, was die Mörder heimsucht, nachts, wenn sie in ihren Zellen liegen und schlafen wollen. Das, was ihnen die Gedanken dreht, bis sie endlich ihrer Schuldgefühle unterliegen und sich nicht mehr wehren können. Manchmal tun sie es selbst, manchmal muss ich nachhelfen."
Ich wusste genau, wovon er sprach.
Er sah sich selbst verpflichtet, Ausgleich zwischen zwei Welten zu schaffen, die man nie begleichen können würde. Nur damit er unabhängig handeln konnte. Ich musste zugeben, ich war ein bisschen beeindruckt.
Wir waren mit Sicherheit schon eine weitere Stunde unterwegs, als Jael das Handy zückte, auf dem Bildschirm herumtippte und das Gerät ans Ohr hielt. Wenig später nahm jemand ab.
"Wir haben ihn."
"Wir?", rauschte es durch den Lautsprecher. Unter normalen Umständen hätte ich die Person am anderen Ende vermutlich nicht verstanden, aber ich war alles Andere als normal.
"Ich hab das Mädchen. Sie hat mir..." Er sah mich an und räusperte sich kurz. "Mehr oder weniger geholfen."
Ich schmunzelte dankbar und wand mich von ihm ab. Ich wollte ihm wenigstens ein bisschen das Gefühl von Privatsphäre geben. Also hörte ich ihm nichtmehr zu und achtete auf die Atmung von Azriel, der hinter mir schien, als würde er einen Alkoholrausch ausschlafen, wenn man mal kurz von seinen Wunden absah. Er schnaubte leise, und ich war schon auf eine Standpauke gefasst, von der ich dachte, dass sie mir jetzt bevorstehen würde. Doch ich irrte mich. Der junge Hunter blieb einfach liegen.
Er konnte nicht viel jünger sein, als Jael. Jedenfalls sah er nicht jünger aus. Wobei das nichts zu heißen hatte, wenn Dämonen ebenso wie wir Engel ab einem gewissen Punkt nichtmehr altern konnten.
Erst jetzt nahm ich mir die Zeit, seine Züge genauer zu mustern. Seine goldenen Augen lagen geschlossen, tief in ihren Höhlen. Die Haut in seinem Gesicht war eingefallen, sodass man die harten Kanten seiner Kiefer- und Wangenknochen deutlich erkennen konnte. Wäre er nicht so drastisch unterernährt, wäre er mit Sicherheit sehr attraktiv. Seine aufgeplatzten Lippen waren einst voll gewesen, jetzt hing trockenes Blut an ihnen, krustig und dunkelbraun. Ein rauer Drei-Tage-Bart überzog seine Seiten, er hatte wohl schon lang keine Möglichkeit mehr gehabt, sich um ihn zu kümmern. Dunkle Schatten zogen sich durch seine Mimik, er wirkte erschöpft - und das zurecht.
Jaels Ton wurde immer schneidender. Ich bleib krampfhaft in meiner Position und begutachtete seinen Kumpel weiterhin. Dieser schien langsam wieder zu seiner Besinnung zurückzukehren, denn trotz seinen Schmerzen fuhr er sich über die Stirn und rieb sich die Augen. Er begutachtete seine zerschnittenen Hände aus zusammengekniffenen Augen und murmelte skeptisch vor sich hin.
"Wie geht's dir", fragte ich ihn. Aus seinem erstaunten Blick las ich, dass er mich wenige Stunden zuvor nicht bemerkt hatte. Es sah mich an, als begegnete ich ihm gerade zum ersten Mal.
"Beschissen", antwortete er leise, gefolgt von einem tiefen Seufzer.
"Es tut mir leid dir das so sagen zu müssen, aber so siehst du auch aus."
Er drückte gespielt verletzt die Hand auf die Brust, auf die Stelle direkt über seinem Herzen und ließ den Kopf zurück auf das Leder sinken. Einen kurzen Moment lang verharrte er in dieser Position, bis der Wagen durch eine Welle im Boden geschüttelt wurde.
Er stöhnte leise und fluchte Flüche - von denen ich mit Erleichterung behaupten konnte, dass ich sie nicht kannte - und schlug gegen den Sitz vor ihm, auf dem Jael saß.
"Ich muss auflegen. Bis nachher", knurrte er in den Hörer und drückte seinen Anrufer ohne ein weiteres Kommentar weg.
"Verdammt, man was soll das?", fuhr er herum.
Azriel setzte ein Gesicht auf, dass ein wenig an einen bettelnden Mops erinnern hätte können, wäre er nicht so mager. Jael gab ihm einen kumpelhaften Klaps auf den Hinterkopf, grummelte noch etwas und ließ dann von seinem Freund ab. Auch ich wand mich wieder der Straße zu, wobei mein Rückrad erleichtert aufjubelte.
"Wir sollten in Kürze da sein..."
"Highway to hell...", hörte ich den Hunter hinter mir leise summen.
Augenblicklich musste ich schmunzeln.
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Holy
FantasyZwei Welten, denen ein Krieg droht. Ein Schicksal, das ein großes Opfer verlangt. Und eine Liebe, die alles verändert. Ein Kind aus verbotener Ehe. Das zweite seiner Art. Gefangen zwischen zwei Welten, vereint im eigenen Körper. Unfähig zu vertrauen...