Kapitel 29

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Ich musste eine ganze Nacht und einen ganzen Tag verschlafen haben, denn als ich aufwachte, wurde es gerade wieder dunkel, dass konnte ich sehen, auch wenn ich seltsam verdreht, eigentlich garnicht auf die dicke Scheibe sehen konnte. Und ich wollte es auch nicht wirklich. Ich hatte nicht das Bedürfnis, die Hölle zu sehen. 

Ich mochte mich mittlerweile zwar damit abgefunden haben, dass ich hier gelandet war, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass das nicht aus freiem Willen so geschehen war. Ich sehnte mich nach meinen Freunden, wenn man sie denn überhaupt schon so nennen konnte. Ich hatte Ana und Zac zwar nicht lange gekannt, aber trotzdem waren sie mir irgendwie ans Herz gewachsen. Ich wusste nicht, ob ich ihnen etwas wert war, mit Sicherheit hätten sie sich schon lange auf die Suche nach mir gemacht. Es konnte doch nicht so schwer sein, mich zu finden. Gabriel hatte mich mit Jael gesehen, zumindest so weit, dass er Verdacht schöpfen könnte. Er hatte ihm schon von Anfang an nicht über den Weg getraut, dass hatte ich gespürt, als wir an der Bar gesessen hatten, bevor er verschwunden war, um Ruby auszuspionieren. 

Was war eigentlich mit ihm geschehen? Mit Gabriel? Er konnte unmöglich ohne mich gegangen sein. Egal was er sich gedacht hatte, als er mich nicht hatte finden können, er hätte das nicht so auf sich sitzen gelassen. Das war einfach nicht typisch für ihn. Hatten sie ihn entführt? War er womöglich irgendwo hier unten, in Ketten in einem dunklen Verließ? Ich konnte die Dämonen nicht einschätzen, und dass stimmte mich sicher nicht glücklich. 

"Sind wir endlich wach?"

Ich fuhr herum und riss gleichzeitig meine Decke nach oben, aus Angst mein Kleid wäre sehr ungünstig verrutscht. Aber selbst wenn das geschehen war, hatte mein Besucher eh schon alles ausgiebig betrachten können. Seine goldenen Augen funkelten gefährlich, tief eingefallen in ihren Höhlen, betont durch dunkle Schatten und Schrammen, auf der zart gebräunten und dennoch bleichen Haut. 

"Wie lange bist du schon hier?"

"Ach..."

Er zuckte mit den Schultern und ging ein paar Schritte in meinem Krankenzimmer umher. Ob er hier sein durfte? Mit Sicherheit nicht, er sah noch immer schwach aus, auch wenn er es zu überspielen versuchte. Er trug ein Klassisches weißes Krankenhaushemd, dass ihm auf den Rippen hing, wie ein Kartoffelsack. Durch den dünnen Stoff konnte ich sehen, wie sich dicke Verbände abzeichneten, überall an seinem ganzen Körper. Er war barfuß, als wäre er gerade erst aufgestanden. 

"Azriel..."

"Sie kann sich erinnern, ein Wunder..."

"Was soll das?"

Schockiert musste ich feststellen, dass auch ich eines der weißen Hemden trug, nur ging es mir fast bis zu Mitte meiner Scheinbeine, ihm bis oberhalb der verschrammten Knie. Die Ärmel hingen weit über meine Hände hinaus, ich fühlte mich wie ein Clown. 

Wer hatte mir dieses Ding angezogen? Ich wollte garnicht darüber nachdenken. Egal wer das getan hatte, die Antwort würde mir nicht wahnsinnig gut gefallen. 

Er ignorierte meine Frage gekonnt und sprach weiter, als wäre ich garnicht da. 

"Wenn sie mich hier erwischen, bringt Sandy mich um..."

"Sandy?"

"Unsere Ärztin. Ihr wird es nicht gefallen, dass ich mich bei einer Frau rumtreibe. Jetzt schon."

Ich verzog angewidert das Gesicht. Dieser Typ brachte mich noch um den Verstand. Dabei kannte ich ihn nicht einmal. 

"Was?"

Er setzte einen gespielt verwirrten Gesichtsausdruck auf. 

"Wie auch immer. Mir ist totlangweilig und ich brauche Gesellschaft." 

"Und dann kommst du zu mir?"

Er nickte langsam und zog die Augenbrauen nach oben, als wäre das etwas Selbstverständliches.

"Jael ist schon lange weg, und außerdem ausgesprochen schlecht gelaunt. Der braucht jetzt erstmal ein bisschen Zeit. Dich hierher zu bringen scheint nicht sonderlich spaßig gewesen zu sein..."

Ich nickte. 

"Nicht wirklich. Für keinen von uns."

"Was will er eigentlich von dir? Wir haben gerade recht wenig Zeit für blutjunge Anfänger wie dich."

"Wenn ich das wüsste würde ich es dir sagen, glaub mir."

"Heh... Ich weiß nicht, ob ich dir das glauben kann meine Hübsche. Du bist nicht auf unserer Seite. Noch nicht."

Noch nicht? Was sollte der Mist?

"Warum solltest du mir nicht glauben können? Engel können nicht lügen."

"Du bist aber kein Engel, Schätzchen."

"Lass den Mist."

"Ich dachte Engel können nicht lügen? Gib es doch zu, es stört dich nicht." 

Nein, es störte mich nicht. Aber es gefiel mir auch nicht. 

"Sieh an. So eine bist du also. Eine kleine Rebellin, die noch nicht weiß, wem sie sich besser unterwerfen sollte."

"Unterwerfen? Das soll wohl ein schlechter Witz sein, oder?"

Er lachte leise und kehlig. Seine Stimme war ähnlich tief wie Jaels, fast noch etwas rauer. Und schauerlich angenehm. 

"Du hast noch viel zu lernen, Darling." 

Darling. Was denn noch alles?

Ruckartig wurde die Tür in seinem Rücken aufgerissen. Ein groß gewachsener Mann kam in den Raum herein, doch ich war mir sicher, dass Azriel ihn überragten würde, wäre er nicht vor Schreck zurückgewichen. Der Mann sah ihn kurz und durchdringen aus eisernen grauen Augen an. Azriel sagte nichts weiter, hob beschwichtigend die Hände und huschte zurück nach draußen auf den Gang. Bevor er die Tür hinter sich schloss, zwinkerte er mir vielsagend zu. Ich zeigte ihm den Mittelfinger und wartete, bis er verschwunden war. 

Der Mann stand vor mir, musterte mich mit einem Hauch Skepsis. Sein Haar war weiß mit einem silbrigen Schimmer in den Spitzen. Es war an den Seiten relativ kurz, oben solang, dass er es hinter dem Kopf zu einem Knoten zusammenbinden konnte. Lange wulstige Narben zogen sich über seine Unterarme, die man unter den hochgekrempelten Hemdsärmeln sehen konnte. Darüber trug er eine Weste an der ein kleiner Wurfstern baumelte. Sein rechtes Auge wurde von einem weißen Schleier überzogen, trotzdem durchbohrte es mich, auch wenn ich bezweifelte, dass er richtig hindurch sehen konnte. 

Es war von einer langen Narbe durchteilt, die sich oben und unten gute zehn Zentimeter durch seine Haut fraß. Es gab ihm etwas unheimliches, finsteres. 

Er sah mich noch immer an, hatte nicht vor, sich zu setzen. Er spielte an dem kleinen Wurfstern herum, ohne jegliche Furcht vor den Klingen, die jede Minute sein Fleisch durchtrennen könnten. Er sah nicht einmal hin, als er ihn zurück in die Brusttasche steckte und sich zu dem schmalen Fenster wand, dass mir zuvor nie aufgefallen war. 

"Rose."

Seine Stimme war so tief, dass ich zurückschreckte. Entweder er war ein Kettenraucher, oder einfach wahnsinnig mit seinen Genen belohnt. 

"Wir müssen reden. Mein Name wird dir sicherlich schon bekannt sein."

Er räusperte sich leise und versenke die Hände in den Taschen seiner dunklen Hose. 

"Cole. Ich leite das hier."

Er drehte sich und öffnete dabei die Arme, wie eine Jesusfigur.

"Und du..." Er machte eine dramatische Pause. "Wirst dank uns zu einer mächtigen Huntress."

Ich sah ihn ungläubig an.

"Und was wenn ich das nicht möchte?"

"Glaub mir, das tust du. Ich sehe es in deinen Augen."

Er wusste genau, dass ich sehen konnte, das seine Hand wieder drohend an den Wurfstern wanderte. 

"Wenn nicht, haben wir da unsere Methoden...", knurrte er mit einem belustigten Unterton.

Ich schluckte.

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