Kapitel 54

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"Wie komme ich hier weg?", blaffte ich Jael an. Er musterte mich mit diesem kalten, abstoßenden Blick, als ich wacklig auf die Beine kam. Wacklig aber würdevoll. 

"Rose, ich wollte nicht..."

"Doch das wolltest du. Ihr seid alle gleich. Denkt nur an euch selbst."

"Rose!"

Ich trat an das nächstbeste Fenster heran und zerschlug die Scheibe mit meinem Ellenbogen. Ich schwang ein Bein über die Fensterbank und ließ mich fallen.

Allerdings landete ich nicht. 

Unter mir befand sich der wohl tiefste Abgrund, den ich je gesehen hatte. Tausende von Metern ging es unter mir in die Tiefe, geradewegs auf spitze Dornen aus schimmerndem Kristall zu, die sich wie die Fänge eines Monsters nach mir streckten. 

Ich wollte meine Flügel strecken, doch es schmerzte zu sehr. Es ging nicht. Ich konnte sie nicht rufen.

Nach all den Wochen die ich in der Hölle verbracht hatte, wäre ich vermutlich eh nicht in der Lage gewesen richtig zu fliegen, doch alles war besser, als hilflos auf diesen Schlund zuzustürzen. In der Ferne wurden die Splitter des zerschlagenen Fensters immer kleiner, wie kleine Funken im grauen Himmel. Ich entdeckte Jaels schwarzen Schopf zwischen den Scherben, doch ich wollte ihn nicht sehen. Ich wollte garnichts mehr sehen. 

Ich presste die Augen zu. 

Dann würde ich eben sterben. Wenigstens dramatisch. 

Doch bevor ich auf den Boden schlagen konnte, und mich die Kristallkrallen zerfetzten, packten mich starke Arme und fingen mich auf. Der Wind zweier gewaltiger Schwingen peitschte mir um die Ohren, als wir in die Höhe schossen. Ich wagte es kaum die Augen zu öffnen. Doch sie geschlossen zu halten war noch weitaus schlimmer. 

Jaels Gesicht war schmerzverzerrt, doch sein Blick lag auf mir. Seine Schwingen - solche Schwingen hatte ich noch nie gesehen. Sie waren gewaltig, gefiedert wie die eines Engels und pechschwarz. 

Tränen liefen mir über die Wangen als wir aufstiegen, weit über die Wolken und flogen, bis ich die Zeit vergaß. Ich drückte mich näher an Jaels Brust und zitterte so sehr, dass ich befürchtete, er würde mich loslassen. 

"Shhh", murmelte er in mein Ohr. Immer und immer wieder. "Ich hab dich."


-


Das Lagerfeuer vor uns knisterte leise und irgendwo in der Ferne schrie eine Eule. Jael hatte ein Kaninchen gefangen und brat es an einer selbstgebastelten Vorrichtung über den Flammen, die ich gezaubert hatte. Seine Schwingen raschelten, als er mich musterte. Das einzige Anzeichen seiner Unsicherheit. 

Seit meinem Fall waren sie nicht mehr verschwunden. Ich wusste nicht, ob er überhaupt wollte, dass sie sich zurückzogen, denn sie waren eine Erscheinung, die ihn wirken ließ wie einen lebendigen Schatten. Schnell und gefährlich.

So etwas hatte es niemals zuvor gegeben, dessen war ich mir sicher. 

Wir hatten den ganzen Abend geschwiegen, doch jetzt, wo die Nacht schon lange über uns hereingebrochen war fühlte sich die Stille an, wie Wände, die auf mich zukrochen. Ich ertrug es nicht länger.

"Deine Schwingen..."

Jael sah mich an, mit einem Blick, der mich im Zwiespalt zurückließ, als ich Erschauderte. Ob vor Furcht, oder dem Kribbeln in meinem Herzen. 

"Wieso bist du nicht selbst geflogen?"

"Es ging nicht."

Diesmal unterstellte er mir keine dreiste Lüge, als würde er spüren, dass es der Wahrheit entsprach, als er fortfuhr. 

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